Das Geheimnis der Heiligen Stadt
Mohammedanern, die wunderbarerweise das Massaker bei der Eroberung Jerusalems überlebt hatten.
Welches dieser Gerüchte mochte der Wahrheit entsprechen? Oder waren sie allesamt falsch, und etwas sehr viel Schlimmeres war im Gange? Nachdenklich kniff Geoffrey die Augen zusammen, während er die Gasse hinunterging. Bei ihrem Aufbruch hatten die Kreuzfahrer auf einer goldenen Wolke der Frömmigkeit geschwebt, erfüllt von der Hoffnung, die Ungläubigen von der heiligsten Stätte der Erde zu vertreiben. Doch innerhalb von Tagen zeigte sich, dass unter der hehren Oberfläche die Fäulnis schwärte: Kreuzfahrer aus dem einen Land weigerten sich, mit denen aus einem anderen Land zusammenzuwirken, und ihre Anführer rangen verbissen um Reichtum und Macht. Als der zerlumpte, von Krankheiten heimgesuchte, gierige und undisziplinierte Haufen drei Jahre später Jerusalem erreichte, war längst jeder Traum von einem gerechten Krieg und heldenhaften Streitern Gottes zerschellt.
Geoffrey schreckte auf, als ein Schatten seinen Weg kreuzte. Dann erkannte er das matte Glühen in den gelben Augen einer Katze und versuchte, sich wieder zu entspannen. Sobald die schwachen Lichter des Patriarchenpalastes in Sicht kamen, atmete er auf.
Am Sitz des Patriarchen brannten immer Lichter, wie auch in den Fenstern der Zitadelle. Geoffrey hielt auf die kleine Pforte in dem groÃen, bronzebeschlagenen Tor zu und klopfte. Sofort schwang sie auf â und wurde wieder zugeschlagen, kaum dass man ihn eingelassen hatte.
Man führte ihn durch ein Labyrinth gefliester Flure, von denen Türen mit unverwechselbar orientalischer Gestaltung abgingen. Geoffrey hatte den Palast bereits verschiedene Male aufgesucht, doch niemals bei Nacht, und er war nie weiter gekommen als bis in die groÃe Empfangshalle, in welcher der Patriarch seinen öffentlichen Geschäften nachging. Diesmal jedoch wurde er in ein kleines Amtszimmer auf einem der oberen Stockwerke geleitet, wo man ihm einen Kelch mit Gewürzwein brachte und ihn allein lieÃ. Geoffrey sah sich um.
Das kleine Zimmer wies wenig Ãhnlichkeit mit der prachtvollen Halle auf: Anstelle eines bunten Mosaiks fanden sich hier abgenutzte Teppiche mit verblassten Farben, und statt goldverzierter Wandgemälde und byzantinischer Säulen gab es hier weià getünchte Wände. Unter dem Fenster stand ein grob gezimmerter Tisch, auf dem sich Pergamente und Schriftrollen türmten. Geoffrey war von Natur aus neugierig. Er rollte ein Blatt auseinander und fing an zu lesen.
»Besitzt Ihr neben all Euren anderen Fertigkeiten auch noch Kenntnisse in der Astronomie?«
Mit einem Lächeln wandte Geoffrey sich zu Tankred um, der unbemerkt eingetreten war, und legte die Schriftrolle auf den Tisch zurück. Wie auch sein Onkel Bohemund bot Tankred eine eindrucksvolle Erscheinung â groÃ, breitschultrig, gewaltiger Brustkorb und muskulöse Arme. Sein blondes Haar trug er kurz geschnitten, und wie Geoffrey war er glatt rasiert. Tankred trat auf seinen früheren Erzieher zu und lächelte freundlich.
»Wie ich hörte, seid Ihr heute aus der Wüste zurückgekehrt. Gibt es etwas Neues?«
Geoffrey schüttelte den Kopf. »Wir stieÃen auf mehrere verlassene Lagerstellen, und zweimal wurden wir überfallen. Aber wir fanden keine Hinweise, dass sich im Osten arabische Kräfte sammeln. Ich vermute, dass ein Angriff â wenn es überhaupt einen gibt â von den Fatimiden in Ãgypten ausgehen wird.«
Tankred zuckte die Achseln. »Vielleicht habt Ihr Recht. Doch es ist immer besser, sicherzugehen. Ihr wart so lange fort, dass ich mich schon gefragt habe, ob Ihr überhaupt wieder zurückkehrt.«
Geoffrey blickte zu ihm hin und fragte sich, ob dieser intelligente, aufmerksame junge Mann etwa von den Vorbehalten wusste, die Geoffrey dem weiteren Aufenthalt in Jerusalem entgegenbrachte. Die meisten Kreuzfahrer hatten das sonnenverbrannte, ausgedörrte Land rund um die Heilige Stadt bereits wieder hinter sich gelassen und waren weitergezogen â entweder zurück in ihre Heimat im Norden oder zu einträglicheren Unternehmungen in wohlhabenderen Gegenden.
Mit einer beiläufigen Handbewegung sagte Geoffrey: »Vielleicht ist es an der Zeit, über eine Rückkehr nach Hause nachzudenken.«
»Nach Hause?«, wiederholte Tankred. »Nach Hause â wofür? Etwa zu Euren Schafe hütenden Brüdern, die
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