Das Geheimnis der Heiligen Stadt
Kopfverletzung abgetan hätte. Irgendwann wäre Roger mit Hugo alleine geblieben, der dann ganz einfach »im Schlaf gestorben« oder von Raserei befallen worden wäre und »sich selbst getötet« hätte.
An Schlaf war nicht mehr zu denken. Geoffrey lehnte sich gegen die Mauer, streckte die Beine auf dem Bett aus und ging noch einmal Schritt für Schritt alle Ãberlegungen durch, um zu sehen, ob er sich vielleicht irgendwo irrte. Aber er irrte sich natürlich nicht. Je mehr er darüber nachdachte, umso mehr passte alles zusammen. Roger hätte ebenfalls den nachgemachten Dolch und das Schweineherz in seinem Zimmer hinterlassen können. Niemand hätte Roger zur Rede gestellt, hätte man ihn beim Hineingehen oder Herauskommen beobachtet: Er und Geoffrey waren gute Freunde, und sie besuchten einander ständig in ihrem Zimmer, um sich Wein auszuleihen.
Aber warum sollte sich Roger an einem solchen Verrat beteiligen? Wie die meisten Normannen war auch Roger habgierig. Er hatte sich nur deshalb dem Kreuzzug angeschlossen, um ein Vermögen zu machen. In seinem Zimmer stand eine Truhe mit dem Beutegut, das er aus Städten überall in Kleinasien zusammengeraubt hatte. Sie war nicht so groà wie die von Hugo, aber gröÃer als Geoffreys. Wie lautete also sein Motiv? Bezahlte ihn jemand für die Morde?
Hatte Roger etwa auch die Priester getötet, und Guido und John? Geoffrey kam zu dem Ergebnis, dass er dazu ohne weiteres in der Lage gewesen war. Keiner der Ritter hatte übermäÃig viele regelmäÃige Pflichten, und sie konnten die Zitadelle stundenlang verlassen, ohne dass ihr Fehlen auffiel. Geoffrey hatte keine Ahnung, wo er selbst während der ersten Morde vor drei Wochen gewesen war, und so lange nach den Ereignissen konnte niemand mehr beweisen, ob Roger sich zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem speziellen Ort aufgehalten hatte. Viele der Ritter, die in der Zitadelle lebten, waren die halbe Zeit betrunken und erinnerten sich vermutlich nicht einmal an den vergangenen Tag, geschweige denn Wochen zurück.
Geoffrey musterte düster den Stein vom Kamin, den er in der Hand hielt. Kein Wunder, dass Courrances an dem Morgen, als Geoffrey gegen Warner gekämpft hatte, so hämisch aufgetreten war. Vielleicht hatte Courrances bereits vermutet, dass Roger in die Sache verwickelt war, und er hatte Geoffrey einfach nur aus Bosheit hinzugezogen.
Geoffrey blickte von dem Stein auf und aus dem Fenster hinaus auf den strahlend blauen Himmel. Was sollte er nun tun? Er zögerte, Hugo mehr als nötig mit hineinzuziehen. Hugo hatte schon einmal sein Leben für diese Sache riskiert. Und ganz gewiss wollte er Roger nicht mit seinen bisherigen Erkenntnissen konfrontieren, ehe er nicht sicher war, wohin sie führen würden. Er wollte vermeiden, dass Roger irgendwelche möglichen Komplizen warnen konnte. Und da Roger schon versucht hatte, Hugo zu ermorden, würde er auch keine Skrupel haben, Geoffrey zu töten.
Aber selbst wenn er jetzt um Rogers Rolle in der Angelegenheit wusste, wurden die Dinge keinesfalls klarer. Es gab noch immer viele unbeantwortete Fragen. Wo lag die Verbindung zwischen Dunstan und Melisende? Hatte sie dem Schreiber die vergifteten Kuchen geschickt, oder hatte Dunstan das Gebäck vergiftet, um es jemand anderem zukommen zu lassen? Wenn Letzteres der Fall war, wer hätte dann der Empfänger sein sollen? Roger? Weshalb waren die Mönche und Ritter ermordet worden? Wen hatte Dunstan erpresst? Und, vielleicht das Wichtigste: Wer stand hinter all dem? Roger selbst? Melisende? Courrances?
Warner und dâAumale? Oder war es Bohemund, dem Roger diente und dessen Ritter ermordet worden waren; oder der Patriarch, dessen Verschlagenheit in der ganzen christlichen Welt bekannt war?
Geoffrey hatte vorgehabt, an diesem Abend Abduls Palast der Freuden aufzusuchen, um den Aufenthaltsort von Warner und dâAumale zu bestätigen. Doch angesichts seiner Erkenntnisse über Roger schien das unnötig. Trotzdem nahm Geoffrey an, dass Roger Komplizen haben musste. So unwahrscheinlich ein Bündnis zwischen Roger und den Rittern des Vogts auch scheinen mochte: Er tat gewiss gut daran zu überprüfen, ob Warner und dâAumale in der Nacht von Mariusâ Tod das Hurenhaus verlassen hatten.
Die Fragen summten in seinem Geist herum wie die Fliegen um seinen Kopf. Geoffrey glaubte nicht, dass er einschlafen würde. Aber das
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