Das Geheimnis der Herzen
würde ich schon schaffen, ich müsse nur immer weitergehen. Die Dunkelheit verschluckte ihn, aber seine Stimme war zu hören und leitete mich. Ich konnte den Gedanken, in den Ruinen allein zu sein, nicht ertragen, also packte ich das Geländer und stapfte Schritt für Schritt nach unten.
»Sie müssen wirklich langsam gehen.« Er fing mich auf, als ich auf der letzten Stufe ins Rutschen kam.
Diesmal war ich es, die nach seiner Hand griff, ohne jede Aufforderung. Ich umschloss den groben Verband.
Jakob Hertzlich ließ es zu, dass ich mich an ihn klammerte, und wir tasteten uns vorwärts, stolperten über den Schutt. Ich kannte diesen Teil des Gebäudes nicht. Was hätte ich getan, wenn Jakob nicht auf mich gewartet hätte?, fragte ich mich. Er führte mich in einen großen Raum, der, wie ich nach einer Weile begriff, der zentrale Lagerraum sein musste, wo ich sehr häufig gewesen war. Hier wurde das Material für die Labore aufbewahrt – Reagenzröhrchen, Gläser für die Präparate, Konservierungsmittel, Bunsenbrenner, Versiege lungsmittel. Wie oft war ich hier heruntergekommen, um mei ne eigenen Vorräte aufzustocken!
Ein Streichholz schrappte über den Stein, und plötzlich sah ich Jakobs Gesicht verschwommen vor mir. Er zündete den Docht einer Lampe an, und gleich darauf war der Raum erfüllt von schwerem Ölgeruch. Die Flamme verbreitete ein ungleichmäßiges Licht. Jakob Hertzlich lächelte, aber jetzt erst sah ich, wie bleich und erschöpft er war. Er sah aus wie ein Geist. Mit melancholischem Humor breitete er die Arme aus. »Willkommen zu Hause.«
Der Lagerraum schien als einziger Teil des Gebäudes noch einigermaßen erhalten zu sein. Als sich meine Augen allmählich an die Beleuchtung gewöhnt hatten, sah ich, dass einiges unternommen worden war, um wieder Ordnung herzustellen. Aber in den Regalen befanden sich keine Vorräte, sondern lauter Gläser – nagelneue Gläser mit Präparaten, gefüllt mit Formalin und sorgfältig versiegelt. Manche waren sogar mit Etiketten versehen.
»Ich habe mein Bestes getan«, erklärte Jakob Hertzlich. »Eine erstaunlich große Anzahl Ihrer Präparate war noch zu retten.«
»Das heißt, Sie sind bis zum Museum hochgekommen?«
Jakob nickte. »Ja«, antwortete er bedächtig. »Aber es ist nicht leicht. Offiziell ist es untersagt. Die Böden sind nicht sicher.«
»Aber es ist möglich?«
Er nickte wieder. »Für viele Sachen musste ich allerdings gar nicht hochsteigen. Sie sind von den oberen Stockwerken nach unten gefallen. Ich musste nur hier suchen und sie einsammeln.«
Später erfuhr ich von Dugald Rivers und Mastro, wie es wirklich gewesen war. Nach dem Brand hatte Jakob Hertzlich drei Tage nicht geschlafen, er war nach den Feuerwehrleuten der Erste, der das Gebäude betrat, er hatte ohne Pause gearbeitet und sich nicht an die Anweisungen gehalten, dass man die oberen Stockwerke nicht betreten dürfe. Die ganze Woche hatte er sich nur um das Museum gekümmert und aus schließlich von Adrenalin gelebt und auch noch weiterge arbeitet, als alle anderen schon aufgegeben hatten. Dugald sagte, er sei wie besessen gewesen. Mastro sprach voller bewunderndem Respekt von ihm, vor allem, weil er sich getraut hatte, die Treppe zum Büro im ersten Stock hinaufzuklettern und Mastros Manuskript zu holen, das Ergebnis seiner jahrelangen Recherchen. Es war zwar vollkommen durchweicht und hatte lauter schwarze Flecken, aber sonst wäre es für immer verloren gewesen.
Der Wind pfiff durch die Löcher in der Decke über uns. Schnee und Ruß landeten auf unseren Köpfen. Ich konnte meinen Atemhauch sehen. »Hier ist es eisig, Jakob. Es ist ein Wunder, dass Sie nicht krank geworden sind.«
»Es gibt ja Bunsenbrenner«, beruhigte er mich. »Und inzwischen kann ich sehr gut in Reagenzgläsern Tee kochen.«
Ich lächelte ihm zu, obwohl mir das Herz brechen wollte. Ein rascher Blick über die Regale sagte mir, dass ein großer Teil der Sammlung verloren war. Jakob Hertzlich hatte gute Arbeit geleistet, aber insgesamt hatte er nur ungefähr ein Viertel der Präparate gerettet. Ich konnte kaum glauben, dass so viel für immer verloren sein sollte.
»Sie müssen mich nach oben bringen«, sagte ich.
Er schaute mich an, und das Weiße in seinen Augen schimmerte hell in dem dunklen Gesicht. »Ich wusste, dass Sie das sagen würden.«
»Ich muss es sehen, Jakob.«
»Aber es besteht die Gefahr, dass etwas abstürzt«, sagte er und fügte nach einer Pause hinzu: » Wir können abstür
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