Das Geheimnis der Herzen
werden .
– MAUDE ABBOTT, »ANGEBORENE HERZFEHLER«
20
Dezember 1905
I ch konnte den Brand riechen, der Geruch begleitete mich auf dem ganzen Weg von meinem Zimmer in der Union Street bis zum Campus der McGill-Universität. Es war Dezember und drei Wochen her, seit ich das letzte Mal in Montreal gewesen war, ein eher kurzer Zeitraum von außen betrachtet, aber lang genug, um ein Lebenswerk zu zerstören. Mein Schiff hatte um zwei Uhr nachmittags im Hafen angelegt, aber danach hatte es entnervend lange gedauert, bis sämtliche Passagiere von Bord gegangen waren. Als ich endlich den Pier erreichte, war es schon nach drei, und das Tageslicht verblasste bereits. Ich war gleich zu meinem Apartmentgebäude geeilt, hatte mein Gepäck dort abgestellt und war dann sofort wieder zur Tür hinausgestürzt.
Die gesamte Rückreise hatte ich allein in meiner Kabine verbracht und mich mit Sorgen gequält. Ich hatte nicht die geringste Vorstellung, was mich im Museum erwartete. Jakob Hertzlich hatte mir ein Telegramm geschickt, gleich an dem Tag, als es passiert war, aber er hatte keine Einzelheiten enthüllt. »Brand in der Fakultät. Kommen Sie umgehend nach Hause.« Das war alles. Unten auf dem Blatt stand sein Name, fett gedruckt.
Ich telegrafierte sofort an Dekan Clarke, um zu fragen, ob irgendjemandem etwas zugestoßen sei. Seine verneinende Antwort war die einzige positive Nachricht bei dem Ganzen. Das Feuer war in der Nacht ausgebrochen, als das Gebäude leer war. Allen Fakultätsmitgliedern und Mitarbeitern ging es gut. Nur die Katze des Hausmeisters schien nicht überlebt zu haben. Was aber das Museum betraf, war Clarke genauso zurückhaltend gewesen wie Jakob Hertzlich. »Wir räumen auf«, waren die Worte, die er verwendete.
Aufräumen. Zweimal war ich während der Überfahrt schweißgebadet aufgewacht, mit flatterndem Herzen, ein Blatt auf den Wellen. Es war ein Gefühl, als stünde ich kurz vor einem Herzstillstand, aber ich hielt jedes Mal bis zum Morgen durch. Die Panik hatte mich fest im Griff, erkannte ich schließlich.
Ich betrat den Campus durch das große Tor und sah jetzt über die offene Rasenfläche hinweg die medizinische Fakultät. Ich kam mir vor wie Jane Eyre, als sie nach Thornfield Manor zurückkehrt, nachdem die geistesverwirrte Ehefrau das Gebäude angezündet hat. Die Fassade war noch intakt, aber durch die oberen Fenster konnte ich Stücke des Himmels sehen. Die Flammen waren offenbar durch das Dach gelodert. Die Luft roch immer noch verkohlt. Als ich näher kam, sah ich, dass jemand vor dem Eingang auf der Treppe saß. Es war inzwischen schon so dunkel, dass ich erst begriff, wer es war, als ich fast vor ihm stand. Ich sah nur eine zusammengesunkene Figur, in einen Mantel gehüllt gegen die Kälte, und zwischendurch glühte immer wieder eine Zigarette auf, wie ein Leuchtsignal.
Ich erkannte seine Stimme, ehe ich das Gesicht sehen konnte. Er habe gehört, dass mein Schiff im Hafen eingelaufen sei, sagte er. Und ihm sei klar gewesen, dass ich gleich zur medizinischen Fakultät kommen würde.
»Wie schlimm ist es?« Ich war immer noch geschwächt von meiner Krankheit und zitterte am ganzen Körper.
Jakob schwieg für einen Moment. »Vielleicht könnten Sie ja zuerst mal guten Tag sagen.«
»Guten Tag«, murmelte ich schnell. »Tut mir leid.« Was nicht ganz stimmte.
»Entschuldigung angenommen.« Er warf seine Zigarette in den Schnee und drückte sie unter seinem Absatz aus. »Kommen Sie«, sagte er und reichte mir die Hand, um mich zu führen, als wäre ich ein Kind. »Ich zeige Ihnen alles.« Seine Hand war verbunden, bemerkte ich voller Schrecken, von den Fingerspitzen bis zum Handgelenk.
»Sind Sie verletzt?«
Er nickte. »Durch die Hitze sind die Gläser gesprungen. Ich habe Schnittwunden bekommen.«
Ich klammerte mich fest an den Verbandmull. Der Weg war heimtückisch, weil das bei den Löscharbeiten verwendete Wasser zu einer ungleichmäßigen, rutschigen Oberfläche gefroren war.
»Es gibt nur einen Eingang«, sagte Jakob und lenkte mich zu einer Kellertür, im hinteren Teil des Gebäudes. Die Stufen waren mit einer dicken, höckerigen Eisschicht bedeckt. »Halten Sie sich am Geländer fest und gehen Sie langsam«, warnte er mich, ließ meine Hand los und tappte vorsichtig abwärts.
Der Geruch war so widerlich, dass ich am liebsten weggelaufen wäre. Es kam mir vor, als beträten wir eine Krypta. Ich habe nicht genug Kraft, dachte ich, aber Jakob trieb mich an, sagte, das
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