Das Geheimnis der Herzen
war so kalt, dass ich es immer nur wenige Minuten im Freien aushielt. Wir hatten Ende Dezember, die ungünstigste Zeit des Jahres für eine Atlantik-Überquerung. Ich war schon einmal im Winter mit dem Schiff nach England gereist, aber da hatte das Wetter mitgespielt, und ich hatte einen Gutteil der Zeit an Deck verbringen können. Doch diesmal war mir von dem Moment an, da ich an Bord ging, übel.
Wenn ich anderen Leuten von meinem Plan erzählt hatte, die Überfahrt im Dezember anzutreten, rieten sie mir immer ab. Miss Skerry hielt Winterüberfahrten für gefährlich. Samuel Clarkes Witwe bemühte sich einen ganzen Vormittag lang, mich davon abzubringen. Die Überfahrt würde hart wer den, sagte sie, aber in Europa stünde mir noch Schlimmeres bevor. Meine ehemaligen Studenten, von denen viele gerade erst aus Übersee zurückgekehrt waren, wurden deutlicher: Überfahrten im Winter mussten um jeden Preis vermieden werden. Eine Eiseskälte, bitterer als alles, was ich in Kanada erlebt hatte, würde mich in meine Kabine verbannen. Europa taumelte noch unter den Kriegsfolgen. Selbst der Schiffsmakler, bei dem ich meine Fahrkarte kaufte, versicherte mir, es wäre klüger, die Reise bis zum Frühling aufzuschieben.
Ich konnte nicht warten. Kaum war am 11. November in einem Eisenbahnwaggon in den nordfranzösischen Wäldern schließlich doch der Waffenstillstand unterzeichnet worden, machte ich mich auf den Weg. Noch bevor die Tinte auf den Dokumenten getrocknet war, boten Passagierdampfer wieder Überfahrten an, und ich konnte eine Koje für die Weihnachtszeit buchen. Ich ließ mich von den Warnungen meiner Studenten und Freunde nicht abschrecken. Schließlich wusste ich ja, wie es im Winter auf dem Meer zuging, und nach vier Jahren kriegsbedingten Eingesperrtseins in Montreal hatte ich mir nichts Besseres vorstellen können, als dem offenen Meer zu trotzen.
Die Fensterläden von Open Arms waren geschlossen, das Tor für Besucher versperrt, obwohl Weihnachten war. Der Weg von der Straße zur Haustür war vereist, deshalb musste ich mich behutsam vorwärtstasten. Ich hatte den Zug von Portsmouth genommen und nicht weit vom Haus der Howletts einen Gasthof gefunden. Doch obwohl schon vierundzwanzig Stunden vergangen waren, seit ich wieder festen Boden unter den Füßen hatte, fühlte ich mich noch wie an Deck. Ich ertappte mich dabei, wie ich mich nach links neigte, als sei die Welt in Schieflage geraten und ich die Einzige, die es bemerkte. Die Übelkeit hatte sich gelegt. Ich musste um die sechs Kilo Gewicht verloren haben – meine Kleider hingen lose an mir herunter. Aber ich war angekommen, gesund und halbwegs munter.
Ich klopfte an die Tür der Howletts und wartete eine Minute, dann spähte ich durch einen schmalen Streifen Milchglas. Ich konnte nichts erkennen, außer dass es im Haus dunkel war. Es war erst zehn Uhr morgens. So früh konnte Sir William noch nicht zu Hausbesuchen unterwegs sein. Ich begann, mir Sorgen zu machen. In Montreal waren so viele Menschen gestorben, dass das eine natürliche Reaktion war. Ich klopfte erneut, lauter und beharrlicher diesmal, und ich hörte nicht auf, bis ein Schatten hinter der Glasscheibe erschien.
Lady Kitty streckte ihren schönen aristokratischen Kopf durch den Spalt zwischen Tür und Türrahmen. Als sie mich sah, richtete sie sich auf wie ein langhalsiger Vogel und schüttelte das elegante Haupt. Sie überragte mich immer noch, aber ihre aufrechte Haltung konnte die Veränderung nicht verbergen. Ihre Mundwinkel waren auf fast groteske Weise nach unten verzogen, und ihr einst so kühner, unerschrockener Blick wich meinen Augen aus. Obwohl sie sich betont gerade hielt, wirkten ihre Schultern krumm – die Last, die sie trug, war so schwer, dass sie ihr fast das Rückgrat brach. Sie schüttelte mir die Hand und sagte, was für eine freudige Überraschung es doch sei, mich so bald nach dem Waffenstillstand wiederzusehen.
Nun war die Überraschung auf meiner Seite. »Sie haben meine Briefe nicht erhalten?«
Lady Kitty war keine Meisterin in der Kunst der Verstellung. Ihre Brauen hoben sich durchaus überzeugend, aber ihre Augen verrieten sie sofort. »Briefe?« Sie bewegte sich nicht und machte auch keine einladende Geste.
»Ja. Ich habe Ihnen mehrere Briefe geschickt. Im letzten habe ich angekündigt, dass ich heute komme.« Meine Zehen brannten mittlerweile vor Kälte. Über Lady Kittys Schulter warf ich einen Blick in den beheizten Flur.
»Vielleicht haben Sie es
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