Das Geheimnis der Herzen
noch nicht gehört«, sagte Lady Kitty, »aber Sir William ist schwer krank.«
Die Veranda schwankte leicht unter mir. »Ich fürchte, ich muss mich setzen.«
Lady Kitty blickte mich erschrocken an. Sicher erinnerte sie sich an meine letzten beiden Besuche und an die Ohnmachtsanfälle, nach denen sie und ihr Mann mich immer gepflegt hatten.
»Tut mir sehr leid«, sagte ich und versuchte, mich an der Wand abzustützen. »Die Reise war anstrengend. Ich fühle mich nicht ganz wohl.«
Lady Kitty ließ die Hände sinken. Sie verzog zwar mürrisch das Gesicht, aber sie ließ mich eintreten. »Kommen Sie, Dr. White«, sagte sie und deutete auf eine Bank im Vestibül. »Sie können für einen Moment Platz nehmen und sich aufwärmen, aber dann muss ich Sie leider bitten zu gehen. William ist nicht in der Verfassung, jemanden zu empfangen. Als Arzt werden Sie das sicherlich verstehen.«
Irgendwo im zweiten Stockwerk von Open Arms lag der alte Mann im Sterben. Jakob Hertzlich hatte recht gehabt. Kitty Howletts Gesicht war von Kummer zerfurcht. Vor wenigen Monaten hatte sie ihr einziges Kind an den Krieg verloren, und nun würde sie ihren Mann verlieren. Wir hatten nichts gemeinsam, was Interessen oder Lebensentwurf betraf, aber zum ersten Mal konnte ich mir vorstellen, wie es sich anfühlte, in der Haut dieser Frau zu stecken. Impulsiv ergriff ich ihre Hand mit den langen, kühlen Fingern. In diesem Moment gab der Heizkörper neben uns Klopfgeräusche von sich, und wir zuckten beide zusammen. Lady Kitty fasste sich zuerst, lachte und zog verlegen ihre Hand zurück.
»Warten Sie«, sagte ich und wühlte in meiner Tasche. Ich hatte Jakobs Zeichnungen mitgebracht. Er selbst hatte mir vorgeschlagen, sie einzupacken. Ich würde einen appetitlichen Knochen brauchen, hatte er gesagt, den ich Lady Kitty vorwerfen konnte, wenn ich an ihr vorbei zu ihrem Mann vordringen wollte. Er hatte recht gehabt, das erkannte ich jetzt. Aber es war mir auch ein ehrliches Bedürfnis, ihr die Zeichnungen zu überreichen. Diese Skizzen waren meisterhaft, und sie würden ihr in dieser traurigen Zeit ein wenig Freude bereiten. »Hier ist etwas, das Sie sehen müssen, Lady Kitty. Es ist von Frankreich nach Montreal gelangt und jetzt über den Ozean wieder zurück zu Ihnen.«
Wir setzten uns nebeneinander auf die Bank, den Skizzenblock zwischen uns. Eine Weile lang blätterte Lady Kitty schweigend, doch als sie zu den Porträts von ihrem Sohn gelangte, erstarrten ihre Hände. Schließlich schaute sie mich an, die Augen voller Tränen. »Danke, Agnes. Ich glaube, es wird William guttun, diese Skizzen zu sehen.«
Das Haus wirkte verlassen. Sie und Sir William seien bis Silvester eine Woche allein, erklärte Lady Kitty, da die Dienstboten Urlaub hätten. Freunde schauten regelmäßig vorbei. Jeden Tag klingelte dieser oder jener, aber Sir William sei zu schwach, um sie zu empfangen. Lady Kitty hatte alle wissen lassen, dass die Türen von Open Arms geschlossen waren. Mir fiel auf, dass man nirgends etwas Weihnachtliches sah. Kein Baum, kein Mistelzweig. Die Eingangshalle war dunkel, ebenso das Esszimmer, in dem zu meinen Ehren einmal ein Empfang gegeben worden war. Ein leiser Geruch von Desinfektionsmittel lag in der Luft.
Die Puppen saßen friedlich auf dem Treppenabsatz zum oberen Stockwerk, an genau derselben Stelle wie vor zehn Jahren. Als ich hinter Lady Kitty die Treppen hinaufstieg, wunderte ich mich, wie dankbar ich war für diesen Hinweis auf eine weibliche Hand. Lady Kitty war wirklich gar nicht so übel. Wie meine Schwester Laure hatte sie wahrscheinlich davon geträumt, in einem Haus voller Kinder zu leben. Und wie bei meiner Schwester war auch für sie dieser Traum zerbrochen.
Ich hatte geglaubt, dass mich die letzten Monate in Montreal und St. Andrews gegen alles gestählt hätten, aber als wir in der Schlafzimmertür standen und ich Sir William sah, merkte ich, dass ich dagegen nicht gewappnet war. Seine Haut sah aus wie altes Pergament. Er lag auf dem Rücken und schien geschrumpft zu sein, schon beinahe wie ein Leichnam.
Lady Kitty trat mit einem munteren Ausruf ans Bett, um die Kissen aufzuschütteln. Ihr Mann hielt ihre Hände fest. »Wen hast du mir gebracht?«, fragte er. Er machte eine Kopfbewegung zur Tür hin, wo ich vor Schreck wie angewurzelt stehen geblieben war.
Ich trat einen Schritt vor und sagte meinen Namen.
»Freut mich sehr.« Das Sprechen fiel ihm schwer. Bei der letzten Silbe rang er nach Luft.
»Ich höre, Sie
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