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Das Geheimnis der Herzen

Das Geheimnis der Herzen

Titel: Das Geheimnis der Herzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claire Holden Rothman
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ergriffen hatte, der ein Spiegel seines eige nen war?
    In der Nacht schlief ich besser als seit Wochen. Voller Hoffnung und Vorfreude verließ ich am nächsten Tag mein Zimmer. Es war kurz vor zehn Uhr. Der Gastwirt stand am Tresen und trocknete mit einem Handtuch Gläser ab. Er war ein gutmütiger Kerl, ein Brandytrinker, wie seine rote Knollennase verriet. Ich schätzte ihn auf einige Jahre jünger als mich, etwa Anfang vierzig. Er bat mich, Platz zu nehmen, und gleich darauf kam seine Frau Eugenie mit Brot und einer Schale Milchkaffee.
    »Eugenie hat erzählt, Sie wollen zu Dr. Bourret«, sagte er, als ich zu essen begann.
    Ich nickte. Das Brot war ganz frisch. Ich bestrich es mit süßer Butter und köstlicher Pflaumenmarmelade. Beim Essen unterhielt mich der Wirt mit Geschichten. Anscheinend war mein Vater bis vor Kurzem regelmäßig in seinem Gasthaus gewesen. Neuerdings habe er gesundheitliche Probleme, sagte der Wirt, aber vorher sei er jahrelang mindestens zweimal die Woche bei ihm eingekehrt. Durch seinen Beruf war er bei den Einwohnern von Calais gut bekannt. Bourret sei sogar, fügte der Wirt stolz hinzu, sein Geburtshelfer gewesen. »Ich war eine Steißgeburt und bin mit dem Hinterteil zuerst auf die Welt gekommen, wie der Doktor mir ständig unter die Nase reibt.« Er zwinkerte mir lachend zu.
    Dann trank mein Vater also hin und wieder mit seinen Nachbarn etwas. Er besaß Humor. Der Wirt ahnte natürlich nicht, welche Schätze er mir da überreichte. Aus Honoré Bourret war ein Hausarzt geworden, etwas, was er früher verachtet hätte. Er begnügte sich damit, Babys auf die Welt zu bringen und gewöhnliche Kinderkrankheiten zu behandeln.
    »Lebt er allein?«, fragte ich, nachdem ich die Schale geleert hatte. Der Wirt warf seiner Frau einen kurzen Blick zu und griff nach dem nächsten Glas. »Hängt davon ab, was Sie damit meinen.«
    »Hat er eine Ehefrau?«
    Der Wirt lachte. »Ich glaube, er hat nicht viel für die Ehe übrig, obwohl die Frauen ihn mögen.«
    Eugenie, die im Gastraum geblieben war, um unser Gespräch mit anzuhören, mischte sich ein. »Das ist seine Sache, Gilles. Uns geht das nichts an.«
    »Du hast recht, mein Schatz.« Er wandte sich mir zu. »Sie ist mein Gewissen, die liebe Eugenie. Aber es tut keinem weh, und schon gar nicht Dr. Bourret, wenn man sagt, dass er Erfolg bei den Frauen hat.«
    »Aber eine Ehefrau gibt es nicht?«, fragte ich noch einmal.
    »Viele haben es versucht«, sagte der Wirt schmunzelnd. »Es lebt jemand bei ihm, obwohl er schon so alt ist. Tja – wahrscheinlich sitzt er auf einem Vermögen.«
    Seine Frau schüttelte den Kopf. »Er war verheiratet, aber das ist schon lange her. In England, wenn ich mich richtig entsinne.«
    »In England?«, fragte ich verblüfft.
    »Ja, stimmt«, bestätigte der Wirt. Er griff gerade nach einem weiteren Glas und bemerkte nicht, wie überrascht ich war. »Das hatte ich ganz vergessen. Er ist in England geboren. Deshalb spricht er so eigenartig, mit diesem Akzent und englischen Redewendungen. Er hatte eine englische Frau und ein Kind, aber sie sind bei einem Schiffsunglück ums Leben gekommen.« Er musterte mich aufmerksam. »Sie kommen auch aus England, nicht wahr?«
    Ich schüttelte den Kopf. »Nein, aus Kanada«, entgegnete ich, obwohl ich in Gedanken noch bei der ertrunkenen englischen Frau und dem Kind war. Es konnte wahr sein. Über so viele Jahre seines Lebens wusste ich nichts – ein halbes Jahrhundert. Doch dann dachte ich genauer nach – wenn man die Steißgeburt des Wirts in Betracht zog, musste mein Vater seit vierzig Jahren hier in Calais leben. Das ließ nicht viel Zeit für eine Liebesbeziehung jenseits des Kanals, schon gar nicht, wenn ein Kind gezeugt worden sein sollte. Vielleicht war England ein Fantasiegespinst, une fausse piste , wie man es hier nannte. Das Ertrinken konnte sich auf Dinge beziehen, die anderswo zu einer anderen Zeit geschehen waren.
    »Aus Kanada«, wiederholte der Wirt nachdenklich. »Aber wer sind Sie, wenn ich fragen darf – sind Sie mit ihm ver wandt? Oder eine Freundin der Familie?« Er beobachtete mich genau, während er sein Glas rubbelte.
    »Eine Kollegin«, erwiderte ich rasch. »Uns verbindet der Beruf.« Das stimmte zum Teil, und ich hatte nicht vor, den beiden hier – oder sonst jemandem – mehr zu offenbaren, ehe ich mit meinem Vater gesprochen hatte.
    Bevor ich ging, zeichnete mir der Wirt eine Straßenskizze. Der Umgang mit einem Stift war nicht gerade seine Stärke, und

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