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Das Geheimnis der Herzen

Das Geheimnis der Herzen

Titel: Das Geheimnis der Herzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claire Holden Rothman
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von der Auberge, unten im Quartier Courgain-Maritime, wo die Fischer wohnen. Wen suchen Sie da?«
    »Dr. Bourret.« Ich wunderte mich, wie mühelos mir der Name über die Lippen kam. Ich empfand keine Scham mehr, nur noch ein leichtes Herzklopfen, das sich schnell wieder legte.
    »Sie meinen den Arzt? Ja, der wohnt dort. Meine Beschreibungen taugen nicht viel, aber mein Mann wird Ihnen den Weg erklären. Sie wollen morgen dorthin?«
    Mir gefiel diese junge Frau mit dem offenen Lächeln, aber ich wollte nicht reden. Da ich in St. Andrews East aufgewachsen war, einer ähnlich kleinen Stadt wie Calais, wusste ich, wie flott sich Neuigkeiten verbreiteten und wie schnell sie verfälscht wurden. Ich dankte meiner Wirtin für ihre Freundlichkeit, konzentrierte mich auf meine Suppe und lenkte dabei das Gespräch in neutralere Bahnen.
    Sobald sie wieder nach unten gegangen war, packte ich meine Taschen aus. Nicht die Kleider – abgesehen von dem, was ich am Leib trug, hatte ich sowieso nur noch eine Garnitur zum Wechseln dabei –, sondern die Tasche mit all den Dingen, die ich für meinen Vater mitgebracht hatte. Die Auswahl war mir schwergefallen, denn sie hatte mich gezwungen, mich in ihn hineinzuversetzen und zu überlegen, welchen Teil meines Lebens er wohl gern sehen würde. Ich hatte gemerkt, wie wenig ich im Grunde über ihn wusste. Vor vierundvierzig Jahren hatte ich ihn mit dem Blick eines Kindes gesehen. Deshalb packte ich, vielleicht passend, als Erstes die Fotografien ein, auf denen Laure und ich als Kinder in Schürzenkleidchen im Fotostudio posierten. Ein Bild zeigte Laure am Tag ihrer Hochzeit. Mein Vater hatte sie nie kennengelernt, aber wenigstens würde er jetzt sehen, was für eine Schönheit seine zweite Tochter gewesen war. Das letzte Bild zeigte mich, wie ich mein Diplom von der McGill entgegennahm.
    Außer den Familienfotos hatte ich noch das Lehrbuch von William Howlett eingesteckt, das mein Kapitel über angeborene Herzfehler enthielt. Das wusste er bestimmt zu würdigen – seine Tochter arbeitete für den Mann, dessen Mentor er gewesen war. Ich hatte auch noch andere von mir verfasste wissenschaftliche Aufsätze mitgebracht, dazu kamen die Ankündigungen von Vorträgen, die ich in Harvard und an der Johns Hopkins gehalten hatte, sowie Zeitungsausschnitte mit Berichten darüber. Außerdem hatte ich Artikel über das Museum dabei und eine schmeichelhafte Darstellung meiner Arbeit an der McGill aus der Gazette .
    Zusätzlich zu diesen Papieren gab es einen separaten Ordner mit meinen ersten Veröffentlichungen. Diese und die Zeichnungen von Jakob Hertzlich wollte ich ihm als beson deres Geschenk überreichen, denn alles betraf das Cor biatria trum triloculare, das Herz mit den drei Kammern und der kleinen Tasche, die die fehlende Kammer kompensierte und die mein Vater angeblich 1872 entdeckt hatte.
    Nach 1872 waren noch mehrere Drei-Kammer-Herzen mit solch einer Ausbuchtung entdeckt worden, aber das Herz von McGill war das erste. In meinem Artikel hatte ich den Begriff ›die Bourret-Anomalie‹ eingeführt, der ihm, wie ich hoffte, ebenso gut gefallen würde wie mir.
    Jetzt war es mir natürlich peinlich, als ich las, was ich da geschrieben hatte. Das Herz spielte zwar im Leben meines Vaters durchaus eine Rolle, aber eine andere, als ich es mir vorgestellt hatte. Wenn das, was William Howlett mir mitgeteilt hatte, der Wahrheit entsprach, war seine Verbindung zu diesem Herzen das Letzte, woran mein Vater erinnert werden wollte.
    Andererseits würde es ihn vielleicht freuen, dass sein damaliges Alibi von mir in einer angesehenen medizinischen Zeitschrift untermauert wurde. Ich packte den Artikel und Jakobs Zeichnungen zusammen mit den anderen Sachen wieder in die Tasche. Ich würde erst in der Rue de Verel 27 entscheiden, was damit geschehen sollte. Nicht vorher. Es empfahl sich, auf alles vorbereitet zu sein.
    Auf eine Möglichkeit konnte und wollte ich mich allerdings nicht vorbereiten – dass mein Vater mir die Tür nicht öffnen würde. William Howlett hatte so etwas angedeutet, aber ich akzeptierte das nicht. Es war die Scham, die meinen Vater all die Jahre von mir ferngehalten hatte, dessen war ich mir sicher. Welcher Mann wollte nicht sein Kind wiedersehen – ein Kind, dem er so wichtig war, dass es mitten im Winter den Atlantik überquerte, um zu ihm zu gelangen? Wie konnte es ihn nicht froh stimmen, wenn er erfuhr, dass seine Tochter seinem Vorbild nachgeeifert hatte, dass sie einen Beruf

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