Das Geheimnis der Herzen
unverhohlen wie ein Kind. Er war einer der Studenten, die zu uns ins Haus gekommen waren. Ganz sicher.
Plötzlich wurde sein Ton ernst. »Hören Sie, Sie kennen mich nicht, aber ich hoffe, Sie vertrauen mir so weit, dass Sie einen Rat von mir annehmen. Sie müssen mir glauben, dass ich lange darüber nachgedacht habe und dass das, was ich sage, nur zu Ihrem Besten gemeint ist. Ich weiß, Sie sind auf dem Weg zur medizinischen Fakultät.«
Ich war verblüfft, aber was dann kam, war erst richtig schockierend.
»Kehren Sie um, Miss White. Vergessen Sie diesen Plan. Er ist undurchdacht und würde Ihnen nur Kummer und Leid bringen.«
Sein Gesichtsausdruck hatte nichts Böses oder Gemeines. Anscheinend war dieser Mann aufrichtig davon überzeugt, dass er mir das Richtige riet. Aber was ging ihn das Ganze an? Wer näherte sich in einer öffentlichen Straßenbahn einer jungen Frau mit solch einem Vorhaben? Wenn er der war, für den ich ihn hielt, dann war er Arzt, und ich wusste, dass die Ärzte, zumindest in Montreal, ein konservativer Verein waren, der den Frauen wenig zutraute. War dieser sogenannte Rat in Wahrheit nur Verachtung? Ich wurde wütend und war kurz davor, ihm meinerseits einen entsprechenden Rat zu geben, aber in dem Moment verabschiedete er sich mit einem Nicken.
Ich hätte ihn vermutlich aufhalten können, doch die Begegnung war so seltsam und befremdlich gewesen, dass ich stumm sitzen blieb, als er ausstieg. Wasser strömte die schmierige Fensterscheibe hinab und verzerrte seine Gestalt. Er winkte mit seinem Schirm einer vorbeifahrenden Droschke, und ehe ich mich versah, war er verschwunden.
Als ich schließlich im Medizingebäude der McGill ankam, war ich in einer fürchterlichen Verfassung. Der Mann in der Tram hatte mich stärker beunruhigt, als ich mir eingestehen wollte, und dann hatte auch noch der Wind auf dem Campus meinen Regenschirm umgestülpt. Die letzten fünfhundert Meter hatte ich völlig ohne Schutz zurückgelegt.
»Sie Ärmste«, sagte die Sekretärin des Dekans, die mich von früheren Besuchen kannte. Sie befreite mich von dem chaotischen Gebilde aus Stoff und Stangen, das mich so schlecht beschirmt hatte, und steckte es in ihren Papierkorb. Die korpulente Dame führte mich dann ein paar Stufen hinunter ins Kellergeschoss. Offenbar gab es im Hauptgeschoss keine Damentoilette, nur eine für Herren. Im Herbst, wenn wir fünf hier unser Studium beginnen würden, musste sich das ändern. Das Gelass, in das sie mich brachte, war nicht größer als ein Besenschrank, enthielt aber ein Waschbecken und einen Spiegel. Ausnahmsweise bedauerte ich es, dass Laure nicht da war, um etwas mit den Haarsträhnen zu machen, die rebellisch von meinem Kopf abstanden.
Während ich mich abtrocknete, beglückwünschte mich die Sekretärin durch die geschlossene Tür: »Sie haben es heute auf die erste Seite der Gazette geschafft. Wer hätte das gedacht?«
Ich lächelte mein Spiegelbild an. Gut, ich war vielleicht ein bisschen nass, aber ich war auch das Eine-Viertelmillion-Dollar-Girl. Nichts konnte daran rütteln. Wir gingen die Treppe wieder hinauf, und ich setzte mich auf dieselbe Bank, auf der ich am Vortag mit Felicity gesessen hatte. An der Wand gegenüber hing ein lebensgroßes Porträt, das ich in den letzten Wochen ausgiebig studiert hatte. »Andrew F. Holmes, 1824«, stand auf dem Messingschildchen, »Gründer der medizinischen Fakultät der McGill-Universität.« Dr. Holmes hielt sich mehr als aufrecht. Ich straffte mich meinerseits und hüstelte. Er würde sich vermutlich im Grab umdrehen, wenn er wüsste, dass ich jetzt hier saß. Gestern hatte ich mit Felicity über seine grimmigen Augenbrauen gelacht. Heute, allein, wagte ich nicht einmal zu lächeln.
Ich versuchte, Andrew F. Holmes in die Augen zu schauen. Ich wollte mich nicht einschüchtern lassen, nicht jetzt, denn immerhin hatte ich Schecks über eine riesige Summe in meiner Handtasche. Zum Teufel mit dem Dekan und seiner Zahlungsfrist, die uns fast den Hals gebrochen hätte! Zum Teufel mit dem Mann in der Straßenbahn, seinen seltsamen Äußerungen und seiner Unverschämtheit. Alle möglichen Leute fühlten sich berechtigt, mir zu sagen, was ich mit meinem Leben anfangen sollte, aber das hieß noch lange nicht, dass ich auf sie hören musste. Ich befand mich in der medizinischen Fakultät, an einem Ort, von dem ich meine ganze Kindheit und Jugend hindurch geträumt hatte. Honoré Bourret war früher durch diese Flure gegangen,
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