Das Geheimnis der Herzen
bereits einige Schattierungen dunkler und machten quatschende Geräusche. Der Rocksaum klatschte mir gegen die Schienbeine.
Wenn das eine Romanszene wäre, dachte ich, wäre das Unwetter bedeutungsvoll. Bei den Schwestern Brontë zum Beispiel war ein Gewitter immer ein böses Omen. Über mir krachte ein Donnerschlag, und ich lachte laut. Es war, als hätte ein spöttischer Gott meine Gedanken gehört. Ich straffte die Schultern. Der Dekan der medizinischen Fakultät hatte mir persönlich einen Betrag genannt, den ich dank der Großzügigkeit von Lord Strathcona und von vielen anderen prominenten Einwohnern Montreals in voller Höhe beibringen konnte. Das Wetter heute war ohne Bedeutung – es ruinierte nur meine Schuhe.
Ich stand an der Straßenbahnhaltestelle und wurde immer nasser, bis ich endlich in der Ferne Hufe klappern hörte. Das untere Drittel meines Rocks war völlig durchweicht. Meine Finger, die den Schirmgriff umklammerten, schwammen in den Handschuhen. Mein Knoten saß noch an Ort und Stelle, aber ein paar widerspenstige Haarsträhnen klebten mir an den Wangen und an der Stirn. Ich war mit Sicherheit kein weiblicher Dandy, ganz egal, was die Männer sangen.
Die Straßenbahn hielt genau vor mir, und ich stieg ein. Es befand sich nur noch ein anderer Fahrgast an Bord, ganz hinten im Wagen, aber ich konnte ihn nur kurz sehen, weil dann meine Brille beschlug. Wahrscheinlich kam er aus dem Vorort Westmount. Alteingesessene Familien wohnten meistens im Zentrum, der Square Mile, doch das änderte sich gerade, weil Montreal immer voller und teurer wurde. Unsere Wohnung lag unmittelbar außerhalb der Square Mile, deren Westgrenze die Côte des Neiges Road war. Hier waren die Mieten nicht ganz so hoch, aber wir konnten trotzdem eine Innenstadtadresse vorweisen.
Nach einer Weile drehte ich mich um und musterte meinen Mitfahrer. Er war, im Gegensatz zu mir, ein ziemlicher Dandy, in einem hellgrauen Anzug mit breiten Aufschlägen. Ein Taschentuch lugte aus der vorderen Tasche. Seine Stiefel hatten Gamaschen. Sein Gesicht war teilweise durch einen Hut verdeckt, aber ich konnte sehen, dass er einen dunklen Teint besaß. Und einen Schnurrbart.
Jetzt starrte ich ihn unverhohlen an. So wie es aussah, las er in einem Lehrbuch, das er auf die Sitzlehne vor sich gelegt hatte, damit er nicht die ganze Zeit den Nacken beugen musste. Plötzlich klappte er das Buch zu und blickte auf, als hätte er gespürt, dass ich ihn beobachtete. Ich wurde knallrot und drehte mich wieder nach vorn um.
Es war verrückt. Ich hatte das schon zu oft erlebt, um mich der Illusion hinzugeben, dass er es wirklich war. Ein Teil von mir wusste, dass es nicht mein Vater sein konnte. Das Alter stimmte nicht. Honoré Bourret wäre jetzt einundfünfzig, und der Mann hinter mir war eindeutig wesentlich jünger.
An der Mountain Street gab es irgendein Problem mit den Schienen, und wir mussten anhalten. Ich tat so, als würde ich den Fahrer beobachten, der ausstieg und im Regen in den Schienen herumstocherte, aber eigentlich kämpfte ich mit meiner Traurigkeit. Heute stand zu viel auf dem Spiel, als dass ich in Nostalgie versinken durfte. Ich war ganz darauf konzentriert, mich aus dieser Stimmung herauszuholen, als ich plötzlich merkte, dass jemand neben mir stand.
Der Mann aus dem hinteren Teil des Wagens war jetzt ganz nahe bei mir. Ich hätte ihn berühren können. »Ich habe gerade erkannt, wer Sie sind«, sagte er, als ich aufblickte.
Ich brachte kein Wort heraus.
»Sie sind doch Agnes White, oder?«
Ich starrte ihn an. Es war nicht mein Vater, so viel stand fest, aber die Ähnlichkeiten waren irritierend.
»Sie halten mich sicher für aufdringlich«, sagte der Mann lachend. »Ich bitte um Verzeihung, Miss White. Aber Sie sind jetzt eine Berühmtheit. Sie werden sich daran gewöhnen müssen, dass fremde Menschen Sie in der Straßenbahn ansprechen.«
Ich versuchte zu lächeln.
»Sie sind es also wirklich. Wusste ich’s doch. Sie sind hübscher, als ich dachte«, sagte er. »Hübscher als auf den Fotos in den Zeitungen.« Er zwinkerte und grinste, und plötzlich löste sein Gesicht bei mir eine Erinnerung aus: ein sehr viel jüngerer Mann, dunkelhaarig und dunkelhäutig und mit dem gleichen Walrossbart, der sich grinsend zu mir herabbeugte – vor vielen, vielen Jahren.
Ich musterte ihn genauer.
»Und Sie sind auch längst nicht so gesprächig, wie die Zeitungen suggerieren«, sagte der Mann.
Ich starrte ihn immer noch an, so offen und
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