Das Geheimnis der Herzen
eins von sämtlichen Zeitungen«, sagte Huntley. »Aber unsere Überschrift ist die beste.«
»›Das Viertelmillion-Dollar-Girl‹«, las ich vor.
Huntley strahlte vor Stolz. »War meine Idee.«
Ich lächelte. Als Spitzname war es ganz passabel. Huntley hatte immer schon ein Händchen für witzige, knappe Formulierungen gehabt. Sein Schreibstil, das musste ich zugeben, als ich den Artikel überflog, war nicht schlecht.
»Ich höre, Sie gehen heute zu Laidlaw«, sagte Huntley, als ich aufschaute.
»Um zwölf«, sagte Großmutter. »Genau wie die Einladung Ihrer Mutter.«
Huntley grinste. »Heute habe ich frei, sonst hätte ich am Ende noch die ältere Schwester begleitet statt der jüngeren.« Er sah Laure an, die sittsam den Blick senkte.
Ich machte eine abwinkende Handbewegung. »Sie haben ja schon die geniale Schlagzeile beigesteuert, Huntley. Der Rest ist Routinearbeit.« Ich nahm den Herald und tat so, als würde ich Huntleys Artikel lesen, aber in Wirklichkeit betrachtete ich mein körniges Gesicht. Man konnte mich beim besten Willen nicht als schön bezeichnen, aber anders als auf dem Schulfoto stieß mich mein Gesicht hier nicht ab. Mir gefielen meine Augen, die selbst hinter der Brille hellwach wirkten.
Wir unterhielten uns noch ein paar Minuten. Huntley überraschte mich mit dem Angebot, mich in seinem Einspänner zur McGill zu fahren und dann wieder zurückzukommen, um Laure und Großmutter zu holen, aber ich lehnte dankend ab, obwohl der Regen jetzt ans Küchenfenster trommelte.
»Aber dann krausen sich doch deine Haare«, sagte Laure.
»Sie krausen sich, egal, ob ich mit dem Einspänner oder mit der Straßenbahn fahre«, entgegnete ich. »Da ist sowieso nichts zu retten.«
Huntley lachte, und zu meinem Erstaunen lachte ich auch. Zum ersten Mal konnte ich mir ein Leben vorstellen, in dem er und Laure als Ehepaar vorkamen. Seit er sie umwarb, hatte mir sonst immer vor dieser Möglichkeit gegraust.
»Apropos Straßenbahn«, sagte Huntley. »Haben Sie schon gehört, dass sie elektrifiziert wird?«
»Elektrifiziert?«, sagte Großmutter. »Auf was für Ideen die Leute kommen!«
»Ich schreibe gerade darüber«, sagte Huntley ohne jeden Anflug von Bescheidenheit. »Ich habe mit den Ingenieuren von der Straßenbahngesellschaft gesprochen. Im Moment setzen sie tausend Pferde ein. In fünf Jahren wird keins mehr nötig sein.«
»Aber wer oder was zieht dann die Straßenbahn?«, fragte Großmutter.
»Leitungsdrähte«, sagte Huntley. »Über den Schienen in der Luft. Drähte, durch die elektrischer Strom fließt.«
Laure sah ihn mit Rehaugen an, als wäre das seine höchsteigene Erfindung.
»Das kann ich nicht glauben«, sagte Großmutter.
»Genau das Gleiche hast du schon beim Plumpsklo gesagt«, platzte ich dazwischen und merkte erst dann, dass dies vielleicht in gemischtgeschlechtlicher Gesellschaft nicht das ideale Gesprächsthema war.
Großmutter funkelte mich böse an.
»Stimmt doch«, sagte ich in verteidigendem Tonfall. »Du hast auch nie geglaubt, dass es Toiletten mit Wasserspülung geben wird. Inzwischen hat fast jeder so was.«
Laure versuchte, mich mit hektischen kleinen Fingerzeichen zum Schweigen zu bringen, während Huntley grinsend auf seine Stiefel blickte. »Tja«, sagte er schließlich und zog seine Taschenuhr heraus. »Tempus fugit . Wir müssen los.«
Großmutter und Laure suchten ihre Mäntel und Schirme zusammen, wünschten mir viel Glück und ließen sich dann von Huntley zur Tür hinauskomplimentieren. Ich setzte mich erst einmal hin und genoss die Stille in der Wohnung. Es kam selten vor, dass ich sie für mich allein hatte. Ich dachte an meine Eltern und wie wichtig es mir war, dass ihr Segen mich an diesem großen Tag begleitete, aber der rhythmisch ans Fenster klopfende Regen lenkte mich ab. Ich konnte das Gefühl nicht festhalten.
Als ich schließlich hinaus ins Freie trat, schüttete es wie aus Kübeln. Man konnte kaum die Umrisse des katholischen Priesterseminars auf der anderen Straßenseite erkennen. Jetzt bereute ich es doch, dass ich das Angebot meines zukünftigen Schwagers ausgeschlagen hatte. Bis zum Campus war ich bestimmt so nass wie eine ertrunkene Ratte, und die ganze Arbeit meiner Schwester und meiner Großmutter war zunichte.
Es blies ein kräftiger Nordwind. Ich hielt den Schirm fest und kippte ihn so in den Wind, dass dieser mich den Gehweg entlang zur Straßenbahnstation trieb. Der Rinnstein neben mir drohte überzulaufen. Meine Schuhe waren
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