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Das Geheimnis der Herzen

Das Geheimnis der Herzen

Titel: Das Geheimnis der Herzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claire Holden Rothman
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mir etwas nach, vielleicht noch eine Warnung, vielleicht auch nur eine Abschiedsfloskel. Wegen des Windes konnte ich nichts verstehen. Seine letzten Worte an diesem Tag sollten mir, wie fast alles an diesem Mann, viele Jahre lang ein Rätsel bleiben.

8
    Juni 1890
    I ch weiß nicht mehr, wie ich nach dem Gespräch mit Laidlaw nach Hause gekommen bin, nur, dass ich zu Fuß gegangen sein muss. Laut Großmutter war alles, was ich am Leib trug, vollständig durchnässt, meine Stiefel und mein Unterrock starrten vor Schlamm. Mein Schirm und irgendwie auch mein Schultertuch waren auf der Strecke geblieben, aber die Handtasche mit dem Geld und dem Ablehnungsschreiben des Dekans umklammerte ich immer noch fest.
    Zum Glück war Großmutter da, als ich in die Wohnung kam. Sie und Laure waren gerade von ihrem Besuch bei Mrs Stewart zurück, der erfolgreicher verlaufen war, als sie es zu hoffen gewagt hatten. Laure war jetzt offiziell verlobt. Huntley Stewart hatte ihr, mitten im Salon seiner Mutter kniend, einen Antrag gemacht. Mit der Hochzeit wollten sie warten, bis Laure achtzehn war, aber ab jetzt würde sie einen Diamanten am linken Ringfinger tragen. Eigentlich waren es sogar mehrere Diamanten – ein erdnussgroßer in der Mitte und ringsum kleinere, in Weißgold gefasst. Es sei ein Erbstück, hatte Mrs Stewart erklärt, als Huntley den Ring hervorholte.
    Zu Hause endete die Bejubelung des Rings abrupt, als ich zur Tür hereinstolperte. Großmutter zog mich aus und packte mich sofort ins Bett. Und da blieb ich, bis ich eine Woche später in den Zug nach St. Andrews East stieg. Das Leben schrumpfte auf die Größe einer Matratze, und die, auf der ich nun im Gästezimmer der Priory lag, war schmaler, als meine Matratze in Montreal gewesen war.
    »Atmen«, sagte der Arzt und atmete mir vor, als verstünde ich kein Englisch mehr. Ich saß im Bett. Er hatte mir das Stethoskop unters Nachthemd geschoben und den kalten Abhörkopf unterhalb des linken Schlüsselbeins platziert. Sein Atem roch nach Pfefferminzpastillen, aber darunter lag ein trauriger Geruch nach Vergorenem. Dr. Osborne war Trinker. Schon früh am Morgen zitterten seine Hände.
    »Wie lange geht das schon so?«, fragte er. »Einen Monat?«
    »Sechs Wochen«, sagte Großmutter, die an der Zimmertür stand und uns beobachtete.
    »Sie hätten mich früher rufen sollen.«
    Großmutter sagte nichts. Sie hatte mich eine Zeit lang mit ihren Hausmitteln behandelt – Baldrianwurzel zum Schlafen, immer wieder einen Löffel Cognac, um den Appetit anzuregen –, aber das hatte alles nichts genutzt. Ich hatte Ringe unter den Augen und mehr als fünf Kilogramm abgenommen. Meine lange nicht mehr gewaschenen Haare rochen wie der Pelz eines Tiers.
    »In solchen Fällen kann es ganz plötzlich bergab gehen. Aber Agnes ist ein gescheites Mädchen«, sagte er und zog den Stethoskopkopf mit einem kleinen, feindseligen Lächeln wieder hervor. »Das wissen wir ja aus der Zeitung. Sie wird der Vernunft gehorchen und aufhören, ihre arme Großmutter mit dieser ganzen Aufregung und diesem Unsinn zu strapazieren.«
    Archie Osborne setzte sich schwerfällig auf den Rand der Matratze. Er kannte uns schon viele Jahre und hatte auch meinen Großvater gekannt, was ihm ein gewisses Recht zu familiärem Verhalten gab. Vor sechzehn Jahren hatte er Laure auf die Welt geholfen. Und er hatte auch unserer Mutter in den letzten Stunden ihres Lebens beigestanden. Die Leute in St. Andrews East achteten ihn, obwohl sie seine Schwächen kannten. Er war altmodisch: Er verordnete Senfpflaster gegen Bronchitis, Blutegel gegen Bluterkrankungen und Brandy gegen so ziemlich alles andere.
    »Die hier werden Sie kurieren«, sagte er, zog ein Pillenfläschchen aus der Tasche und entkorkte es. Dann klopfte er sich zwei Pillen in die Hand und hielt sie mir hin, zusammen mit dem Wasserglas von meinem Nachttisch. »Kommen Sie, Agnes, schön runterspülen.«
    Ich sank auf die Matratze und drehte mich weg, weil mir von der Mischung aus Pfefferminz und Selbstgerechtigkeit schlecht wurde.
    Der Arzt wiederholte seine Aufforderung, diesmal an meine Schulterblätter gerichtet. Als ich mich nicht rührte, wurde er ärgerlich. »Jetzt hören Sie mal gut zu, Agnes. Ihre Großmutter ist nicht mehr die Jüngste. Sie müssen sich zusammenreißen.«
    Ich zog stattdessen das Laken über mich, und mein ungewaschener Geruch war nach Archie Osbornes Ausdünstungen eine Wohltat. Ich wollte es nicht zugeben, aber was Großmutter betraf,

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