Das Geheimnis der Herzen
Haus war die Nummer eins, und die Straße war nach einer der berühmtesten Figuren der amerikanischen Geschichte benannt. Alles passte zusammen. Es war ein imposantes Gebäude aus rotem Backstein, mit weißen Fenster- und Türrahmen. Die Veranda war grün, mit weißen Vertikalen zwischen den Stufen. Ein Lattenzaun umschloss den großen, gepflegten Rasen. Neben dem Gartentor stand ein Briefkasten, geschmückt mit dem Namen Dr. William E. Howlett.
Unsicher schaute ich auf meine Schuhe hinunter, die bei jedem Schritt vor Nässe quietschten. Meine Tasche hatte einen dunklen, hässlichen Fleck in der Mitte. Ich gehörte nicht hierher. Eine Person wie mich, die so am Rande der Gesellschaft lebte, allein, ohne Ehemann und ohne Kind, die für ihren Lebensunterhalt arbeitete und anfällig war für Unfälle – eine solche Person konnte ein Haus wie dieses hier nicht dulden.
Ehe ich noch den Klopfer berührte, öffnete sich schon die Tür, und ein Mann sagte meinen Namen. Er hatte eine dunkle Haut, wie offenbar alle Bediensteten in Baltimore, und hob nicht den Blick, um mich anzuschauen. Er nahm mir den Mantel ab und wollte auch die Tasche verstauen, wobei er taktvoll den Fleck übersah. Ich schüttelte den Kopf und drückte sie fest an mich.
Als ich im Vorraum einen kurzen Blick in den Spiegel warf, um meine Frisur zu überprüfen, hatte ich das starke Gefühl, beobachtet zu werden. Es war aber nicht der Bedienstete, es musste noch jemand anwesend sein. Der Spiegel war so angebracht, dass ich den größten Teil des Flurs überblicken konnte. Etwas Rotes fiel mir ins Auge: Ein Kind in einem roten Hemd und mit einem Pistolenhalfter um den Bauch schielte hinter einem Türrahmen hervor, in der Hand eine Spielzeugwaffe, mit der es auf mich zielte. Unsere Blicke begegneten sich kurz, der kleine Junge verzog das Gesicht und verschwand.
Ohne lange zu überlegen, hob ich meinen Verband an die Nase und zielte. » Peng ! «, rief ich laut, was den Diener irritierte und vielleicht auch den Jungen. » Peng, peng, peng! « Jetzt konnte ich ihn sehen. Er steckte wieder den Kopf durch die Tür und fixierte mich mit funkelnden Augen. Ich begutachtete meinen Finger und pustete auf die Spitze, als würde sie qualmen. Verblüfft verfolgte der Junge meine Aktion. Ebenso der Bedienstete – er schaute mir jetzt sogar in die Augen. In Baltimore hatten Frauen offensichtlich keine Schusswaffen dabei, wenn sie zum Essen eingeladen wurden.
Ich wurde eine geschwungene Treppe zum Arbeitszimmer hinaufgeführt, wo Dr. Howlett mich erwartete, wie es hieß. Außer mir und dem Bediensteten schien keiner in der Nähe zu sein. Ich konnte riechen, dass gekocht wurde, was ein Hinweis darauf war, dass irgendwo, und zwar nicht allzu weit entfernt, menschliches Leben stattfand.
Auf halber Strecke war ein Treppenabsatz, mit einem bleigefassten Fenster. Auf dem Sims saßen drei große Puppen, einander zugewandt, als würden sie über etwas tratschen. Kittys Sammlung. Genauso, wie Dugald Rivers gesagt hatte. Die Puppen waren aus Bienenwachs, genau wie Laures Puppen früher. Mit der Kleidung hatte sich Kitty viel Mühe gemacht – sie war kunstvoll und farbenfroh. Alle drei trugen weiße Handschuhe, und eine von ihnen hielt sich einen Fächer vor den Mund.
In einer Nische im ersten Stock saßen zwei weitere Puppen mit bleichen Gesichtern, und außerdem stand da eine Vase mit frisch geschnittenen Osterglocken. Eine weibliche Note. Auch der blassrosa Läufer und die geblümte Tapete gingen garantiert auf den Einfluss einer Frau zurück. Meine Hand umklammerte den Griff der Tasche noch etwas fester. Was hatte ich mir nur dabei gedacht, in solch eine Umgebung ein präpariertes Herz mitzunehmen?
Der Diener räusperte sich dezent, um meine Aufmerksamkeit zu gewinnen. Sicher fand er es nicht angemessen, dass ich alle Details im Hause Howlett mit so unverhohlener Neugier studierte.
Nach ein paar weiteren Schritten roch ich den Rauch. Am Ende des Flurs im ersten Stock wurde der Geruch richtig penetrant. Man musste mir eigentlich gar nicht den Weg zeigen. Ich brauchte nur meiner Nase zu folgen, zu der verschlossenen Tür, hinter der sich der Urheber des Qualms befand. Ich blieb auf der Schwelle stehen und atmete den pfeffersüßen Geruch von Pfeifentabak ein.
Im Zimmer raschelte etwas, nachdem der Diener geklopft hatte. Ich hörte, dass jemand sich erhob. »Treten Sie ein, meine Liebe, treten Sie ein!«, rief Howlett und öffnete die Tür weit. Durch das schütter
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