Das Geheimnis der Herzen
werdende Haar, das von der hellen Deckenbeleuchtung angestrahlt wurde, schimmerte seine Kopfhaut. Ohne den Zylinder erkannte man besser als am Morgen, wie alt er war. War es Eitelkeit, dass er in der Öffentlichkeit den Hut nicht abgenommen hatte? Sein Schnurrbart wurde an manchen Stellen weiß, was mir bis jetzt noch nicht aufgefallen war. Aber seine Augen waren unverändert. Sie tanzten vergnügt und verliehen ihm eine jugendliche Aura. Er entließ den Diener und wandte sich mir mit einem warmen Lächeln zu. »War es schwierig, herzufinden?«
Ich schüttelte den Kopf. Mein Hotel liege nur ein paar Straßen weiter, erklärte ich. Dann kam eine Abfolge von Banalitäten aus meinem Mund, wie trockene kleine Kröten: Das Haus sei wunderschön. Die Wohngegend großartig. Und was für ein perfekter Tag, um zu Fuß hierherzukommen. Am Ende schloss ich verzweifelt den Mund.
Er schien alles genau und wohlwollend zu betrachten: das nonnenartige Kleid, das ich im Hotel angezogen hatte, weil ich fand, dass es seriös aussah, den jetzt schon etwas schmuddelig aussehenden Verband an meinem Finger und schließlich mein erhitztes Gesicht. Mit meiner guten Hand presste ich die Tasche fest an mich. Er sah darauf hinab.
»Honorés Tasche«, sagte er leise.
Ich schaute ihm in die Augen, und zu meinem großen Entsetzen brach ich in Tränen aus. Das war mir unendlich peinlich. Ich wollte unbedingt stark sein, ihm zeigen, aus welchem Holz ich geschnitzt war, und stattdessen fing ich an zu weinen. Howlett hätte allen Grund gehabt, mich fortzuschicken. Stattdessen kam er um seinen Schreibtisch herum und reichte mir ein Taschentuch. Er berührte mich nicht, vielleicht, weil wir allein waren und die Situation etwas verfänglich wirkte, aber als er sich zu mir beugte, spürte ich die Wärme, die von ihm ausging. Er lud mich ein, Platz zu nehmen, dann holte er noch einen Stuhl und setzte sich neben mich. »Ihr Vater hat sie immer in unsere Vorlesungen mitgebracht«, sagte er ernst und voller Ehrfurcht.
Eine neue Tränenwelle stieg in mir hoch. Die Abneigung, die ich ihm gegenüber empfunden hatte, weil er sich so negativ verhalten hatte, als es um meine Zulassung zur McGill ging, löste sich endgültig auf wie Nebel in der Morgensonne seiner Zuwendung. Es war für mich unfassbar, dass jemand ohne Verbitterung oder Befangenheit über meinen Vater sprach. Ich biss mir innen auf die Wangen, aber das steigerte nur noch meine Qual. Was musste er jetzt von mir denken? Bestimmt machte ich einen absolut desolaten Eindruck.
Aber er klang sehr gütig, als er weitersprach. »Sie haben Ihren Vater sehr geliebt, nicht wahr? Nun, es war leicht, Honoré zu lieben.«
Er sprach darüber, dass mein Vater sein Mentor gewesen war. Er habe ihn zutiefst verehrt, ja geradezu angebetet. »Seinetwegen habe ich angefangen zu rauchen, müssen Sie wissen«, sagte er und hielt seine Pfeife hoch. »Wir haben gepafft wie die Schlote im Totenhaus, um den Gestank zu überdecken.« Ich zuckte zusammen, und dann fiel mir ein, dass mein Vater ihn wahrscheinlich auch zu dem Schnurrbart inspiriert hatte. Ich musste mich richtig bemühen, um mir vorzustellen, dass William Howlett, der von so vielen seiner eigenen Studenten bewundert wurde, vor meinem in Ungnade gefallenen Vater solch gewaltigen Respekt hatte.
Er atmete tief durch. »Aber – genug von Ihrem Vater, Agnès.« Er sprach meinen Namen genauso aus, wie mein Vater es immer getan hatte. »Sie müssen mir von sich selbst erzählen.«
Das war mir alles zu viel. Mein Kopf fühlte sich an wie ein ausgehöhlter Kürbis. Als wäre mein Gehirn mit einem Löffel entfernt worden. Wenn ich die Möglichkeit gehabt hätte zu fliehen, wäre ich auf der Stelle davongelaufen, aber ich saß fest, hypnotisiert von seinem Blick. Ich schaute auf seine Schreibtischunterlage mit den verschlungenen blauen Spuren, weil sie auch als Tintenlöscher diente. Ich studierte das Bücherregal hinter ihm, dessen Bretter sich unter den Büchern bogen: Rudolf Virchows Die Cellularpathologie in ihrer Begründung auf physiologische und pathologische Gewebelehre, Jacob Bigelows Discourse on Self-Limited Disease. Ich entdeckte auch das Lehrbuch, das Howlett selbst verfasst hatte und auf dessen Rücken in goldenen Lettern sein Name prangte.
Er hatte die Hände im Schoß gefaltet. Nach ein paar Sekunden sagte er etwas, das mich mit großer Dankbarkeit erfüllte: »Sie sind stärker, als Sie scheinen. Sie haben durchgehalten.« Er schwieg, zog an seiner
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