Das Geheimnis der Herzen
erschrak. »Damit habe ich nicht gerechnet«, sagte er. »Ich hätte auf meine Mutter hören sollen, statt meinem dummen Herzen zu folgen. Wohin hat es mich geführt?« Mit einem resignierten Achselzucken starrte er zur Decke. »Das hier ist ein grauenvolles, unfruchtbares Haus.«
Ich stand auf und zog ihn fort, außer Hörweite. Offensichtlich war er zu verzweifelt, um an die Gefühle meiner Schwester zu denken. Er schob die Unterlippe vor. Dann befreite er den Arm aus meinem Griff und zupfte seine Manschette zurecht. »Alles, was ich mir gewünscht habe, war ein Leben mit Kindern und mit einer Frau, die mich liebt. Und was habe ich stattdessen bekommen?« Zuckend schlossen sich seine Augenlider.
»Schluss jetzt«, sagte ich streng. »Das reicht.«
Aber Huntley war noch nicht fertig. »Ich habe viel dafür getan, um zu erreichen, was ich bisher erreicht habe. Ich habe fleißig studiert. Ich habe mich an der McGill durch exzellente Leistungen hervorgetan. Du hast mich ja dort gekannt. Habe ich diesen Zustand jetzt verdient? Ich bin der Präsident des Metropolitan Club, Herrgott noch mal! Das kann doch gar nicht wahr sein.«
»Das reicht!«, sagte ich noch einmal, aber lauter. Am liebsten hätte ich ihn geschüttelt, ich musste mich geradezu beherrschen. »Sie trauert, Huntley. Großmutters Tod hat sie sehr getroffen.«
Huntley machte eine abwehrende Handbewegung. »Das ist nicht nur wegen eurer Großmutter. Ihre Seele war schon vorher aus dem Gleichgewicht.«
Ich hatte schon länger den Verdacht gehegt, dass die Gehässigkeit, die Huntley sonst speziell für mich reserviert zu haben schien, auch bei anderen ans Tageslicht kam. Diesen Argwohn sah ich jetzt bestätigt. Meine arme Schwester war in einer Zeit, in der sie sehr verletzlich war, solch einer Behandlung ausgesetzt gewesen. »Du könntest ein bisschen Mitgefühl zeigen«, fuhr ich ihn an.
»Ich sage nur die Wahrheit. Ihr beide seid ohne Mutter aufgewachsen. So ein Trauma hinterlässt seine Spuren. Euer Vater hat euch im Stich gelassen. Die Whites wirken wie stabile Menschen, aber ihr zwei habt euer Leben nicht als Whites angefangen, stimmt’s? Ihr hattet früher einen anderen Namen. Einen französischen.«
Huntley wusste also über die Vergangenheit Bescheid. Es war ja auch nur logisch, dass Laure ihm alles erzählt hatte.
»Sie trauert, Huntley. Es hilft nichts, wenn du sie so streng behandelst.«
Er schien mir gar nicht zuzuhören. Irgendwie hatte er vergessen, dass ich neben ihm stand, denn er redete einfach weiter, den Blick auf seine Füße gerichtet. »Ich hätte die Zeichen erkennen müssen, aber ich war von ihrer Schönheit geblendet, abgelenkt durch das, was jeder wahrnehmen konnte, der Augen im Kopf hat. Verflucht sei der Tag, an dem ich sie das erste Mal gesehen habe!«
Ich schickte ihn fort. Es dauerte eine Weile, bis er ging, weil er unbedingt Laure die ganze Schuld an der Situation in die Schuhe schieben wollte. Was ihn am meisten beunruhigte, war, dass womöglich sein Ruf darunter litt.
Als der Flur leer war, kniete ich mich wieder vor das Schlüsselloch. Ich konnte immer noch nichts sehen, aber ich spürte die Gegenwart meiner Schwester, und ein paarmal hörte ich die Dielen knarren. Ich setzte meine ganze Überredungskunst ein, bis ich es schließlich schaffte, dass Laure wieder etwas sagte.
»Ist er noch da?« Ihre Stimme klang fremd.
Huntley ist fort . Ich wiederholte das immer wieder, bis sie sich beruhigte. Endlich schloss sie die Tür auf.
Ich quetschte mich durch die enge Lücke zwischen der Wand und einer schweren Mahagoni-Kommode, mit der sie die Tür verbarrikadiert hatte. Erstaunt stellte ich fest, dass das ganze Zimmer weiß war. Der Spiegel an der Wand, an der die Kommode gestanden hatte, war mit einem Laken verhängt. Ein Nachttisch war ebenfalls bedeckt, genau wie der kleine Schreibtisch beim Fenster. Nur das Bett nicht, aber dafür waren Matratze und Kopfkissen abgezogen. Es sah aus, als hätte jemand den Raum für eine längere Abwesenheit vorbereitet.
Laure stand mitten in diesem eigenartigen Arrangement. Im Nachthemd. Sie war furchtbar blass, ihre Augen lagen tief in den Höhlen, ein Hinweis auf Dehydration. Ihre Haare waren ungewaschen und strähnig, und sie war barfuß. Unwillkürlich stieß ich einen Schrei aus und stürzte auf sie zu, aber sie wehrte mich ab. In der Hand hielt sie etwas, das aussah wie ein Messer.
Ich blieb wie angewurzelt stehen. Diese Methode hatte ich in Zürich gelernt, wo ich
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