Das Geheimnis der Herzen
renovierte Haus gekauft. Huntley und Laure sprachen immer von ihrer »Trophäe«. Im oberen Stockwerk befanden sich sechs Schlafzimmer und zwei Badezimmer mit fließend Wasser und Toilette. Sie hatten elektrisches Licht, und die Heizung wurde mit Öl befeuert. Ein Haus, in dem man eine Dynastie gründen konnte, hatte Huntley lachend bemerkt, als er und Laure mich nach meiner Rückkehr aus Europa dort herumführten.
Nach fünf Ehejahren war allerdings noch keine Spur von Dynastie zu sehen. Kein Stewart-Erbe war geboren worden. Huntleys Mutter hatte mit Laure gesprochen, sie mit Fragen bombardiert. Großmutter hatte ihr geraten zu beten – ein altehrwürdiges Mittel gegen alle Probleme. Aber Laures Menstruationszyklus war schon immer unregelmäßig gewesen, seit ihrer Jugend. Diese Schwierigkeit konnte nicht mit Gebeten behoben werden.
In der Mitte der Haustür befand sich ein stark oxidierter Klopfer in Form eines Fisches, der aus London importiert war. Huntley sammelte Antiquitäten. Das ganze Haus war voll mit wertvollen Gegenständen, und Laure verbrachte den größten Teil ihrer Zeit damit, diese so aufzustellen, dass die Dienstmädchen sie putzen und polieren konnten. Nachdem ich das zweite Mal mit dem Fisch an die Tür geklopft hatte, riss Peter sie auf. Er kniff die Augen zusammen, weil der Schnee ihn blendete. Ich spähte an ihm vorbei ins Haus, weil ich Laure erwartete, doch der Flur lag dunkel und verdächtig ruhig da.
Dann tauchte Huntley auf, frisch rasiert und förmlich gekleidet. Er lächelte nicht und brachte auch keine Begrüßung über die Lippen, und ich reagierte entsprechend.
»Wo ist sie?«
»Deine Schwester« – er vermied es offenbar bewusst, zu erwähnen, in welcher Beziehung er zu Laure stand –, »deine Schwester hat sich im Schlafzimmer eingeschlossen und weigert sich herauszukommen. Die Situation ist so entar tet, dass man sie schon als absurd bezeichnen muss. Deine Schwester ist in dem Zimmer, seit sie aus St. Andrews zurückgekommen ist. Zuerst habe ich ihr Verhalten ignoriert« – er beschrieb seine Strategie, als ginge es um den Umgang mit einem schwierigen Kind –, »und du weißt ja selbst, dass sie sehr launisch sein kann. Meine Erfahrung sagt mir, wenn ich sie in Ruhe lasse, kommt sie nach ein, zwei Tagen wieder zur Vernunft. Aber diesmal ist es leider nicht so.«
Ich zog meine Stiefel aus und ging zur Treppe, aber Huntley stellte sich mir in den Weg. »Ich muss dich warnen, Agnes. Es ist diesmal wirklich schlimm. Schlimmer als je zuvor.«
Ich schob ihn beiseite und rannte nach oben, immer zwei Stufen auf einmal nehmend. Huntley folgte mir auf den Fersen.
Die Schlafzimmertür war verschlossen. Ich rüttelte am Türknauf und klopfte. Keine Reaktion. »Sie ist wirklich da drin?«, fragte ich Huntley.
Er nickte. »Den elften Tag.«
»Den elften Tag!« Verzweifelt hämmerte ich gegen die Tür. »Hat sie was zu essen? Und Wasser?«
Huntley zuckte die Achseln. »Mary bringt dreimal am Tag ein Tablett und stellt es vor der Tür ab, aber Laure rührt nie etwas an. Vor zwei Tagen hat sie die arme Frau sogar mit einem Messer verjagt.«
Das konnte ich mir nicht vorstellen. Meine zarte Schwester wollte eine Bedienstete erstechen? »Sie fällt doch schon in Ohnmacht, wenn sie nur an Blut denkt .«
»Sie hat den Verstand verloren, Agnes. Ich glaube, sie ist wirklich übergeschnappt.«
Hinter der Tür knarrten die Dielen. Jemand stand dort und horchte.
Ich kniete mich vors Schlüsselloch, sah aber nichts als Dunkelheit. »Laure?« Stille. Ich hörte nur das Geräusch meines eigenen Atems, aber ich gab nicht auf. »Ich bin’s, Agnes. Es ist alles gut, keine Gefahr. Du kannst jetzt die Tür öffnen.«
Wieder folgte eine längere Pause. Dann fragte Laure mit leiser Stimme: »Ist Huntley bei dir?« Sie klang wie ein Kind.
Ich drehte mich um. Huntley hatte die Hände hinter dem Rücken verschränkt und biss sich auf die Unterlippe. »Ja«, antwortete ich. »Er ist hier, Laure. Er ist krank vor Sorge um dich.«
Für eine Weile war erneut alles still, dann hörte man, dass Möbel über den Boden geschoben wurden.
»Sie verbarrikadiert sich«, sagte Huntley.
»Was hast du vor? Mach die Tür auf! Niemand will dir etwas tun, Laure.« Das Möbelrücken hörte auf. Ich wartete und zählte meine Atemzüge.
»Geh weg!«, rief Laure. »Ich bin bewaffnet.«
Huntley schüttelte den Kopf und schaute den Gang hinunter. Als er mich wieder ansah, liefen ihm Tränen übers Gesicht. Ich
Weitere Kostenlose Bücher