Das Geheimnis der Herzen
eine Vermutung, aber oft genug bewiesen die Gespräche mit Howlett, dass ich recht hatte, oder ich fand Hinweise in wissenschaftlichen Veröffentlichungen anderer Mediziner. Allem Anschein nach war der Name meines Vaters systematisch aus den Annalen der Fakultät getilgt worden. Man hatte gezielt all seine Spuren gelöscht. Vom Verstand her begriff ich, was passiert war – der Name meines Vaters wurde mit einem Mord in Verbindung gebracht, und die McGill wollte nichts damit zu tun haben –, aber emotional konnte ich es nicht fassen. Es erschien mir gnadenlos, alle Hinweise auf seine Leistungen verschwinden zu lassen, zumal er ja vom Gericht freigesprochen worden war. Meine archivarische Detektivarbeit bekam zunehmend einen persönlichen Charakter.
Im Gegensatz zu meinem Vater hinterließ William Howlett überall Spuren. Er war bestrebt, alles zu dokumentieren, was er als Pathologe je angefasst hatte. Eine meiner frühen Entdeckungen war eine Sammlung von Autopsie-Aufzeichnungen: drei Bände, in denen jeder Fall, an dem er gearbeitet hatte, detailliert besprochen war, von seiner Studentenzeit bis zu den Jahren, in denen er als Chefpathologe am Montreal General Hospital gearbeitet hatte. Was für eine Goldmine an Informationen! Das Material aus seinem Studium war der Schlüssel zum Werk meines Vaters, die Quelle, die zahlreiche Geheimnisse aufdeckte. Die meisten seiner frühen Autopsien, erzählte mir Howlett bei einem Gespräch, hatte er unter der Aufsicht von Honoré Bourret vorgenommen. Mein Vater war sein Lehrer gewesen und später auch sein Freund. Er habe ihm während seiner Ausbildung mehr über Medizin und über das Leben im Allgemeinen beigebracht als sonst irgendjemand. Howlett war sehr pedantisch in Detailfragen. Jede Fallakte enthielt nicht nur die Ergebnisse der Autopsie, sondern auch die Krankengeschichte des Patienten, sodass man Verbindungen herstellen konnte zwischen den Symptomen zu Lebzeiten und den Läsionen, die nach dem Tod gefunden wurden. Und was in meinen Augen fast genauso wichtig war: Howlett erwähnte immer, wer bei der Autopsie anwesend gewesen war und wer tatsächlich das Messer geführt hatte.
Bei meiner Arbeit, während ich mit formalingetränkten Präparaten herumfuhrwerkte und verstaubte Bücher wälzte, um die Exponate ordnen und bezeichnen zu können, wurden mir William Howlett und mein Vater in Gedanken immer vertrauter. Ihre Hände hatten dieselben Gläser berührt, die ich nun Tag für Tag anfasste. Ihr Skalpell hatte die Organe bearbeitet, die sich darin befanden, hatten Membranen und Fett entfernt, hatten verborgene Probleme offengelegt. Jedes Mal, wenn ich das Museum betrat, fühlte ich ihre Anwesenheit. Abends, in meinem gemieteten Zimmer in der Union Street, gleich östlich vom Campus, spürte ich ihre Nähe ebenfalls: Ich verbrachte meine Abende damit, Howletts Veröffentlichungen durchzugehen und immer tiefer in sie einzudringen. Ich schlief ein, mit seinen Worten auf meiner Brust und mit seinem Gesicht vor meinem inneren Auge.
Das Herz lag in meiner linken Hand. Der Faden führte jetzt durch den Herzbeutel. Im Endeffekt war es einfacher gewesen, als ich gedacht hatte. Ich zog die beiden Enden gleich lang und fädelte eins durch das winzige Loch in dem Glasröhrchen. Es roch nicht gut, dieses Herz. Nicht direkt vermodert, aber einfach nicht sauber. Ich füllte das Glas mit frischem Konservierungsmittel, so klar und farblos wie Wasser. Irgendwo hatte ich über Menschen in Portugal gelesen, die in den Familienkrypten immer die Knochen ihrer Vorfahren abstaubten. Es gab einen speziellen Tag dafür, und jeder tat es, überall im Land. Mein momentaner Job war ähnlich, das ganze Jahr hindurch.
Ich nahm das Herz in beide Hände. Es war glitschig, wie ein Stein, den man aus dem Fluss holt. Ganz, ganz vorsichtig ließ ich es zurück ins Glas gleiten. Eine Sekunde lang fürchtete ich, es könnte vielleicht nicht funktionieren. Doch dann klickten die Röhrchen an ihren Platz. Ich hörte das leise, befriedigende Klirren. Ich hatte es geschafft. Das Herz hing jetzt gerade, perfekt justiert.
14
Februar 1900
A n einem Sonntag Anfang Februar schrak ich morgens aus dem Schlaf hoch. Zum ersten Mal seit dem Begräbnis hatte ich tief und fest geschlafen. Ich hatte vom North River in St. Andrews East geträumt. In meinem Traum war offenbar Herbst gewesen, denn ich hatte kahle Bäume gesehen, der Fluss war nicht gefroren gewesen, und ins Tal drängte sich der Novembernebel. Ich stand
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