Das Geheimnis der Herzen
Jakob Hertzlich verspeisten wir alles bis auf den letzten Krümel.
IV
DER VERSTAND DES HERZENS
Le c œ ur a ses raisons que la raison ne connaît point.
(Das Herz hat seine Gründe, die der Verstand nicht kennt.)
– BLAISE PASCAL
17
April 1905
I ch arbeitete schon beinahe sieben Jahre im Museum, als Dr. Howlett seinen Besuch ankündigte. Das Museum war für mich inzwischen eine Art zweite Heimat geworden – oder eigentlich die dritte, wenn man die Priory mitzählte – und eine große Stütze in meinem Leben, das mir ansonsten eine unverhältnismäßig große Anzahl an Problemen aufzuladen schien. Laures Zustand besserte sich nicht. Ich hatte keine Ahnung, wie Miss Skerry mit der Situation fertig wurde, denn meine Schwester hatte draußen auf dem Familiengrundstück in St. Andrews East immer weniger gute Tage. Huntley hatte sie praktisch abgeschrieben, was in jeder Hinsicht eine Erleichterung war – außer finanziell. Die Instandhaltung der Priory, Miss Skerrys Gehalt und der Lebensunterhalt für meine Schwester und meine ehemalige Erzieherin ruhten allein auf meinen Schultern. Miss Skerry war anspruchslos und einfallsreich und mit wenig zufrieden, aber es machte mir viel aus, dass ich ihr nicht mehr geben konnte, da doch ihr Leben und das meiner Schwester ohnehin schon so eingeschränkt und hart waren. Geld war immer knapp und ein Grund zur Sorge. Ich wurde von der McGill absolut unterbezahlt. Nur dank der Zuschüsse von Dr. Howlett kam ich einigerma ßen durch.
Und nun wollte er also kommen. Er hatte schon mehrmals einen Besuch angekündigt, war aber terminlich immer so ausgelastet, dass er es bisher nicht geschafft hatte. Diesmal hatte jedoch der Kanzler ein Porträt von Howlett in Auftrag gegeben, das im Medizingebäude aufgehängt werden sollte. Howlett plante, zwei ganze Tage hier zu verbringen, »um meine lieben alten Montrealer Freunde zu sehen«, hatte er vor einigen Wochen in einem Brief geschrieben, »und um für das verdammte Porträt zu sitzen«.
Das Porträt war alles andere als »verdammt«. Am liebsten hätte ich Kanzler und Maler umarmt, denn es bewirkte etwas, was ich mit all meinen Bittschreiben und Einladungen nicht erreicht hatte. Uns trennte inzwischen ein Ozean, denn Howlett lebte in Oxford, war der königliche Professor für Medizin. Dazu hatte er eine neue Staatsbürgerschaft erworben und einen neuen Zusatz zu seinem Namen. Er hieß jetzt Sir William Howlett, denn er war britischer Bürger und in den Ritterstand erhoben worden, seit wir uns das letzte Mal gesehen hatten. Er wurde also nicht nur in ganz Kanada und in den Vereinigten Staaten gefeiert, sondern auch in England. Dekan Clarke hatte mir erzählt, Howlett sei der Privatarzt des britischen Premierministers.
Der Tag des Besuchs war nass und kalt. April war in Montreal allgemein ein sehr unzuverlässiger Monat. Innerhalb weniger Stunden konnte das Wetter von warm auf bitterkalt umschlagen. Doch dieser Tag nun war besonders schlimm. Ein starker Wind pustete mich über den Weg durch den Campus, bis zur medizinischen Fakultät. In der Sherbrooke Street war ich auf dem Eis ausgerutscht und hatte mir Löcher in die Strümpfe gerissen. Sobald ich im Gebäude war, hob ich meinen Rock an, um den Schaden zu begutachten. Beide Knie waren aufgeschürft und bluteten. Gut, das Blut konnte ich abwaschen, aber die Strümpfe, die ich erst vor einer Woche speziell für diesen Anlass gekauft hatte, waren ruiniert. Aus London importierte Seidenstrümpfe, die meine Mittel bei Weitem überstiegen …
Studenten strömten herein, um ihre Kurse zu besuchen, mit geröteten Gesichtern und die Mäntel fest zugeknöpft. Ein schüchterner junger Mann winkte mir im Vorbeigehen zu. Die höheren Jahrgänge kannten mich alle von meinen Tutorien. In meinem ersten Jahr an der McGill hatte kein Mensch mir zugewinkt. Vor den Weihnachtsferien hatte es eine informelle Umfrage gegeben, und die Studenten hatten mich als eines der besten Mitglieder des Lehrkörpers gewählt. An Tagen, wenn keine Tutorien stattfanden, kamen die Studenten oft vor den Kursen oder während der Mittagspause ins Museum, um sich mit mir zu unterhalten. Das war schmeichelhaft, obwohl es natürlich bedeutete, dass ich die Vormittage nicht mehr für mich hatte. Ich hatte mir angewöhnt, immer schon eine Stunde vor Jakob zu kommen, Teewasser aufzusetzen und ungestört herumzuwerkeln.
An Tagen wie heute sehnte ich mich nach meiner früheren Unsichtbarkeit. Hoffentlich klopfte niemand an
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