Das Geheimnis der Herzen
übel riechen wird, wenn wir uns nicht an die Arbeit machen. Sie entschuldigen, wenn sich Jakob noch vor dem Tee damit beschäftigt? Besten Dank, Dugald.«
Das neue Fakultätsmitglied war überrascht und sichtlich erfreut, dass ich ihn so anredete. Im Museum sprachen wir uns alle mit Vornamen an. Das hatte ich eingeführt. Ich war Agnes, Jakob war Jakob, und Rivers würde bald Dugald sein. Der Ärmste. In der Armee waren nur Nachnamen gestattet, und für gewöhnlich ging es in Krankenhäusern nicht weniger förmlich zu als in Militärbaracken.
Ich reichte Jakob den Eimer. Im Laufe der Monate hatte ich vollstes Vertrauen zu ihm gewonnen und war davon überzeugt, dass er jede Aufgabe im Museum genauso gut und effizient erledigen konnte wie ich. Er war intelligent und fleißig, und überhaupt hatte sich herausgestellt, dass Dr. Clarke mit ihm eine brillante Wahl getroffen hatte.
Als ich mich wieder Dugald zuwandte, blickte dieser gerade interessiert auf die Wand. »Gutes Bild«, sagte er und zeigte auf das Plakat, das Jakob mitgebracht hatte, kurz nachdem er hier angefangen hatte. Es war eine Tuschezeichnung auf Zeichenkarton, dezent koloriert mit Aquarellfarben. Drei Herzen aus verschiedenen Blickwinkeln. Die einzelnen Teile waren säuberlich beschriftet.
»Es stammt von meinem Assistenten«, sagte ich.
Dugald Rivers blickte erstaunt hoch. »Von ihm?«, flüsterte er und schaute zu der Ecke des Raums, wo mein bescheidener Helfer unser neuestes Präparat reinigte. »Von dem Knaben da drüben?«
Ich nickte.
»Er hat Talent.«
Das gehörte zu den vielen verwunderlichen Dingen an Jakob Hertzlich, die ich mit der Zeit entdeckt hatte: Er war ein Künstler. Ein echter Künstler. Am liebsten verbrachte er den Tag damit, auf seinem Notizblock Skizzen zu entwerfen. In seiner Freizeit zeichnete er unablässig, und die Ergebnisse waren manchmal atemberaubend.
Ich lud Rivers ein, doch bitte Platz zu nehmen. Mir gefiel es, wenn man das Teetrinken zelebrierte, und um die Angelegenheit etwas festlicher zu gestalten, breitete ich ein von Laure und Miss Skerry besticktes weißes Tuch über das eine Ende des Seziertischs. Rivers stellte seine Gebäckschachtel auf den Tisch, und während wir warteten, bis das Wasser im Kessel kochte, plauderten wir über die Fakultät und über Rivers’ Aufgaben dort, und ich wollte natürlich wissen, wie die McGill im Vergleich mit seinen Erfahrungen in Baltimore abschnitt.
»Übrigens«, sagte er unvermittelt, »haben Sie etwas über das Herz herausgefunden? Sie wissen schon – dieses rätselhafte Reptiliending, das Sie damals im Zug mitgeschleppt haben. Ich muss oft daran denken.«
Ich nahm das Glas von seinem Ehrenplatz auf meinem Schreibtisch und hob es hoch. »Das hier, nicht wahr?«
Dugald Rivers nickte und seufzte tief. »Es ist wirklich ein Wunder.«
»Wunder hin oder her«, erwiderte ich verschmitzt, »ich habe ihm fast einen Rausschmiss aus der West Franklin zu verdanken.« Ich erzählte ihm die Geschichte vom kleinen Revere und seiner Aktion unter dem Tisch.
Dugald sagte lachend, er könne sich die Szene gut vorstellen: das alte Herz, das wie eine Bombe unter Kitty Howletts pedantisch ordentlichem Tisch tickte.
»Ich habe es geschafft, die Hintergründe herauszufinden«, berichtete ich. »Dr. Howlett hat ein enormes Erinnerungsvermögen. Die Obduktion fand vor siebenundzwanzig Jahren statt. Im Oktober 1873.« Ich machte eine kurze Pause, damit er die Information verdauen konnte. »Das heißt, es ist fast sechzig Jahre alt.«
Dugald pfiff leise durch die Zähne. »Das ist wirklich fantastisch. Howlett hat mehr zu bieten als ein enormes Erinnerungsvermögen, das kann ich Ihnen versichern. Sehen Sie doch nur, wie er die Herzkammer geöffnet hat. So viel Fingerspitzengefühl.«
»Das ist nicht Howletts Arbeit.«
Er musterte mich verwirrt.
»Die Sache ist irreführend, weil jahrelang jeder nur vom Howlett-Herzen gesprochen hat.« Ich nahm das eingerahmte Exemplar eines Artikels von der Wand, den ich mit Dr. Howletts Hilfe im Montreal Medical Journal veröffentlicht hatte.
» Burritt «, sprach Dugald den Namen meines Vaters beim Vorlesen aus.
»Dr. Honoré Bourret «, korrigierte ich ihn, mit französischer Aussprache und Betonung. Der Name kam mir mit Leichtigkeit über die Lippen. Ich schaffte es sogar, Dugald dabei in die Augen zu sehen. Der Name sei französisch, erklärte ich, auch wenn Bourret wie die meisten ehrgeizigen französischen Montrealer als Erwachsener
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