Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Geheimnis der Herzen

Das Geheimnis der Herzen

Titel: Das Geheimnis der Herzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claire Holden Rothman
Vom Netzwerk:
noch verschiedene andere Besorgungen machen und wollte ihn auf keinen Fall zerquetschen. Als Nächstes begab ich mich in die Konditorei und ging schließlich in den Weinladen, der um diese Tageszeit noch leer war. Ich hatte Hemmungen, ihn zu betreten – eine Frau allein –, aber der Verkäufer behandelte mich sehr respektvoll. Das konnte ich allerdings auch von ihm erwarten, denn ich kaufte eine Magnum seines besten Champagners, womit ich meinen Geldbeutel bis aufs Letzte strapazierte.
    Als ich mit meinen vollgepackten Taschen zum Campus kam, läuteten die Mittagsglocken, und die Sonne stand hoch. Vor der Einladung musste ich ein bisschen auslüften und meine Haare wieder feststecken, aber es war schön gewesen, vormittags zur Abwechslung draußen im Freien zu sein. Ich hatte fast vergessen, dass außerhalb der Mauern der McGill eine so schöne, sinnliche Welt existierte.
    Das Eis auf der zentralen Rasenfläche des Campus war gerade erst geschmolzen. Ich atmete die Duftmischung aus Matsch, Chlorophyll und Exkrementen ein, die Fäulnis, die das erste frische Grün nähren würde. Mein ganzes Selbst öffnete sich der Sonne, das spürte ich richtig, genau wie die Pflanzenwelt, die durch die dampfende Erde drang. Vor mir gingen ein Junge und ein Mädchen nebeneinander her. Sie waren noch kein Paar – was ich daran merkte, dass die junge Frau jedes Mal erstarrte, wenn der Arm des Jungen sie berührte. Er streifte sie immer wieder, scheinbar zufällig, aber sie wussten beide, dass er es absichtlich tat. Das Mädchen lachte, und die Sonne strömte auf uns herab wie Honig und salbte uns alle.
    Ich war zu voll bepackt, um nach meinem Schlüssel zu kra men. Zum Glück war die Tür zum Museum nur angelehnt. Ich stapfte hinein, begleitet von dem Geruch, der draußen herrschte, und mit Matsch an den Schuhen. Im Raum war es so stickig, dass ich am liebsten wieder umgekehrt wäre. Jakob Hertzlich saß am Tisch und blies Rauchkringel in die Luft. Ich beobachtete, dass einer aufwärts waberte und wie ein schiefer Heiligenschein über seinem Kopf hing.
    »Guten Morgen!«, rief ich, um ihn wissen zu lassen, dass ich endlich da war.
    Es folgte eine Pause. Jakob machte sich nicht die Mühe, aufzustehen oder den Kopf zu heben. »›Guten Tag‹ wäre passender, wenn ich mich nicht täusche.«
    »Also dann: guten Tag.« Er war immer so pedantisch! Bei der Arbeit wusste ich das zu schätzen, aber jetzt hätte ich ihn gern angeschrien. »Was machen Sie da?«, fragte ich ihn und deutete mit dem Kinn in Richtung Rauch.
    Er tat so, als verstünde er meine Frage nicht. »Ich arbeite.«
    Ich stellte meine Einkäufe ab. »Wollen Sie damit andeuten, dass ich nicht arbeite?«
    »Ich will es nicht andeuten .« Endlich blickte er hoch und blinzelte durch die verrauchte Luft. »Sie wissen, was Sie vorhaben. Es liegt mir fern, ein Urteil darüber zu fällen.«
    »Sehr richtig.« Ich wedelte mit der Hand, um den Rauch zu vertreiben. »Und was soll das?«
    »Sie waren nicht hier. Da dachte ich, es störe niemanden.«
    Ich stöhnte und trat ans Fenster. Es zu öffnen war gar nicht so leicht. Man brauchte eine Stange, und am Ende dieser Stange befand sich ein Metallhaken, den man mit einem Ring oben an den Fensterscheiben verbinden musste. Ich dachte instinktiv an eine Harpune, während ich mit der Stange herumwerkelte. Ich war einfach zu klein! Da lag das Problem. Wenn ich dreißig Zentimeter größer gewesen wäre, hätte ich keine Schwierigkeiten gehabt. Die Stange schwankte hin und her, und manchmal streifte der Haken kurz den Ring. Ich kam aber nie dicht genug ran, um ihn richtig zu erwischen.
    Jakob bot nicht an, mir zu helfen. Nicht, weil er Wichtigeres zu tun hatte. Nein, er saß da und rauchte seine Zigarette zu Ende. Ich legte die Stange wieder fort und zog meinen Mantel aus. Auf meiner Oberlippe hatten sich Schweißperlen gebildet. Ich schmeckte das Salz, roch den unangenehmen Geruch meiner eigenen Frustration. Dann nahm ich noch einmal Anlauf, als ginge es um Leben und Tod, als würde die Welt untergehen, wenn ich dieses Fenster nicht öffnete.
    Weil ich mich auf diese Aufgabe konzentrieren musste, wurde ich ruhiger. Arbeit hatte meistens diese Wirkung auf mich. Wie Meditation. Ein Pfad zu stilleren Wassern. Der Haken griff, und ich zog mit aller Kraft. Es war ähnlich wie beim Angeln: die Phase der Stille, dann die Aufregung, wenn die Angel zuckte. Die Scheibe kippte nach unten, nur aufgehalten durch zwei Ketten, die an der obersten Leiste

Weitere Kostenlose Bücher