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Das Geheimnis der Herzen

Das Geheimnis der Herzen

Titel: Das Geheimnis der Herzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claire Holden Rothman
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Strümpfe, die ich zerrissen hatte, aber doch von so guter Qualität, dass sie meine Beine umschlossen wie eine glänzende zweite Haut. Mein Kleid war grün, der Stoff mit kleinen burgunderroten Blumenknospen gemustert. Laure und Miss Skerry hatten es mir zu Weihnachten geschenkt, das Schnittmuster stammte von einem bekannten Modeschöpfer. Es war das eleganteste Kleidungsstück in meiner Garderobe. Und so modisch, dass ich bisher nur einmal gewagt hatte, es anzuziehen, nämlich am Weihnachtstag in St. Andrews East, damit die Schenkerinnen mich darin sehen konnten. Bestimmt hatte Miss Skerry den Löwenanteil der Handarbeit übernommen. Laures Stimmungsschwankungen waren inzwischen so heftig, dass man sich nicht recht vorstellen konnte, wie sie sich längere Zeit auf ein bestimmtes Projekt konzentrierte. Aber das Kleid war wunderschön, ganz unabhängig davon, welche Hände es genäht hatten. Ich kam mir darin fast hübsch vor.
    St. Lawrence Boulevard war die erste Station auf meiner Route. Es waren schon viele Leute unterwegs und drängten sich auf dem Bürgersteig. Direkt vor mir rief ein Junge mit durchdringender Sopranstimme: » Herald! Kaufen Sie Ihren Montreal Herald ! « Ein Mann, der rote Reklametafeln umgehängt hatte, versuchte ein paar Schritte weiter, ihn zu übertönen. Er pries geräucherten Fisch an.
    Ich bewegte mich mitten in dieser lebhaften, lärmenden Szenerie und ließ mich von der Energie der Menschenmenge weitertreiben. Die Sonne stand schon ziemlich hoch, und ich blickte nach oben, um ihre wärmenden Strahlen auf meinem Gesicht zu spüren. Was für eine Veränderung im Vergleich zum Tag zuvor! Das Eis war so gut wie verschwunden, und durchweichte Grasflächen wurden sichtbar. In den Rinnsteinen neben den Holzplanken des Gehwegs plätscherte munter das Wasser.
    Endlich erreichte ich die Obsthalle. Dort kaufte ich sehr gern ein. Allerdings schaffte ich es sonst nur selten hierher ins Zentrum. Die Halle war so riesig, dass ich mir vorkam wie ein Kind. Im Erdgeschoss befanden sich ganz normale Stände, mit Fässern voller Äpfel und Wurzelgemüse, geerntet im vergangenen Herbst. Das eigentliche Wunder lag darunter, im Kellergewölbe. Ich begab mich zu den Schätzen dort, die aus fernen Gegenden importiert waren, von Orten, die ich nur als Punkte auf der Landkarte kannte. Hier gab es Orangen, Pflaumen und Ananas mit spitzen Blättern, unreif gepflückt und dann nach Norden gebracht in Schiffen, in deren Tiefen sie während des Transports langsam reiften.
    Ein Genuss für Augen, die nach sechs Monaten Winter ermattet waren. Wie es sich wohl anfühlte, in einer Gegend zu leben, in der das ganze Jahr über solch ein Überfluss herrschte? Die Menschen, die dort wohnten, fanden es wahrscheinlich überhaupt nicht berauschend, wenn sie im April Orangen sahen. Vielleicht war ein gewisses Maß an Entbehrung notwendig, damit man sich richtig freuen konnte, so wie Leid ein wesentlicher Bestandteil der Freude war.
    Die Ananas lagen direkt vor mir. Ich erinnerte mich daran, wie ich diese Früchte zum ersten Mal gegessen hatte – bei der Party, die Mrs Drummond vor fünfzehn Jahren zu meinen Ehren gegeben hatte. Ich hatte das Gefühl gehabt, als würde ich Sonnenstrahlen essen und die Helligkeit direkt in mich aufnehmen. Ich nahm eine Frucht in die Hand und schnupperte daran. Der Geruch war nur schwach, aber ich erkannte ihn: Sonnenschein direkt unter der Haut.
    Aber ich war nicht hier, um Ananas zu kaufen. Das Obst, das ich wollte, war so früh im Jahr noch nicht frisch zu haben. Auf einem großen Tisch in der Ecke fand ich, was ich suchte: Gläser mit leuchtenden Erdbeeren, mit Zucker und Pektin eingemacht, um den Winter zu überdauern. Sie waren zwar nur ein kläglicher Ersatz für die frischen Beeren, aber besser als nichts. Auf dem Weg zur Kasse entdeckte ich außerdem noch Gurken und steckte zwei Stück in meine Tasche.
    Anschließend ging ich in das Käsegeschäft und kaufte einen Brie. Quebec gehörte zu den wenigen Gegenden in Nordamerika, wo man exzellenten Weichkäse kaufen konnte. Siedler aus der Bretagne und der Normandie hatten im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert begonnen, in den englischen und schottischen Gemeinden diese flachen runden Torten zu produzieren. Der Käse, den ich kaufte, kostete mich ein halbes Wochengehalt, aber der Mann versicherte mir, dieser Brie sei gerade richtig reif und qualitativ erstklassig, verpackt in einer Holzschachtel, was sehr günstig war, denn ich musste

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