Das Geheimnis der Highlands
seine Mutter und seine Geschwister zu vernichten, über seinem Kopf geschwebt hatte? Die Drohung, Hunderte Angehörige seines Clans zu töten? Was würde der noble Hawk wohl tun, um dies zu verhindern?
Die Antwort fiel ihr nicht schwer. Ihr starker, kluger, ehrenhafter Ehemann würde tun, was immer er tun mußte. Jeden anderen Mann hätte der Hawk getötet. Aber man konnte nicht einfach den König von Schottland töten. Nicht, ohne daß der eigene Clan von der Armee des Königs völlig ausgelöscht werden würde. Gleiches Ergebnis, keine Wahl. Eine Strafe von fünfzehn Jahren, alles wegen eines abgewiesenen und verdorbenen Königs.
»Kannst du mich nicht so annehmen, wie ich jetzt bin, Mädchen? Es ist vorbei. Ich bin frei.« Seine Stimme war so leise und so voller Schmerz, daß ihr fröstelte. Seine Wortewarfen sie aus dem Gleichgewicht; es war genau das, was sie selbst hätte sagen können, wenn der Mann, den sie liebte, sie mit ihrer Vergangenheit konfrontieren würde. Ihr Ehemann verstand Schmerz, und vielleicht Scham und ganz gewiß Reue. Welches Recht hatte sie, jemanden für eine dunkle Vergangenheit zu richten und zu verdammen? Wenn sie ehrlich zu sich selbst war, mußte sie sich sogar eingestehen, daß ihre Vergangenheit das Ergebnis ihrer eigenen, naiven Fehler gewesen war, wohingegen sein schmerzvoller Leidensweg einer war, den man ihn gezwungen hatte zu gehen, um seinen Clan und seine Familie zu schützen.
Sie wollte den Mann berühren und heilen, der jetzt so steif und weit entfernt von ihr dasaß, doch sie war sich nicht sicher, wie sie es anfangen sollte. Soviel war klar – er war nicht des Königs Hure gewesen, was auch immer das bedeuten mochte, weil er es sein wollte; diese Erkenntnis verschaffte ihr größte Erleichterung. Mehr als alles andere wollte sie diesen ungestümen, stolzen Mann verstehen. Wollte die Schatten aus seinen schönen dunklen Augen vertreiben. Sie zuckte unwillkürlich zusammen, als sie spürte, wie Seide ihr Kinn streifte.
»Nein! Setz mir nicht wieder die Haube auf. Bitte.«
Hawk ignorierte ihre Proteste, und sie seufzte, als er die Bänder wieder verschnürte.
»Wirst du mir nun sagen, warum?«
»Warum was?«
»Warum ›verbrämst‹ du mich jetzt?« Was hatte sie getan, um seinen Zorn zu reizen?
»Ich hielt mich zurück, Mädchen. Ich gab dir, was kein anderer Mann dir gegeben hätte. Ich gewährte dir Zeit, mich aus freien Stücken zu wählen. Doch es scheint, als sei dein Wille äußerst töricht und müßte überredet werden. Du wirst mich wählen. Und wenn du es tust, wird keines anderenMannes Namen mehr auf deinen Lippen sein, keines anderen Mannes Schaft zwischen deinen Schenkeln, keines anderen Mannes Gesicht vor deinem geistigen Auge.«
»Aber –« Sie wollte wissen, warum ihre Zeit so plötzlich abgelaufen war. Was hatte ihn dazu gebracht, jetzt zuzuschlagen?
»Kein Aber. Keine weiteren Worte, Mädchen. Es sei denn, du wolltest, daß ich dir auch noch den Mund verbinde. Von diesem Zeitpunkt an wirst du lernen zu sehen, ohne die Hilfe jener schönen, lügenden Augen. Vielleicht bin ich kein kompletter Narr. Vielleicht wirst du mit deinem inneren Blick die Wahrheit erkennen. Dann wiederum, vielleicht auch nicht. Aber deine erste Lektion ist, daß mein Aussehen nichts damit zu tun hat, wer ich bin. Wer ich in meiner Vergangenheit gewesen sein mag, hat nichts mit dem zu tun, der ich bin. Wenn du mich schließlich klar erkennst, dann, und nur dann, wirst du wieder mit deinen Augen sehen.«
* * *
Sie erreichten Uster kurz nach Morgengrauen. Indem er sein Pferd durch die Nacht hetzte, hatte Hawk eine Reise von zwei Tagen in weniger als einem geschafft.
Er führte sie zum Gutshaus, vorbei an dem gaffenden Personal, die Treppe hinauf und ins Schlafzimmer. Ohne ein Wort durchtrennte er die Fesseln an ihren Handgelenken mit einem Dolch, schubste sie zum Bett und verriegelte hinter sich die Tür, als er ging.
* * *
In der Sekunde, als Adriennes Hände frei waren, riß sie sich die Haube vom Kopf. Sie hatte vorgehabt, sie in winzigeseidene Fetzen zu zerreißen, kam allerdings zu der Einsicht, daß er wahrscheinlich etwas anderes benutzen würde, wenn sie die Haube zerstörte. Davon abgesehen, sann sie, hatte sie nicht vor, mit ihm zu kämpfen. Sie hatte genug Probleme am Hals, indem sie versuchte, sich ihren eigenen Gefühlen zu stellen; laß ihn tun, was er glaubt, tun zu müssen. Es gab ihr mehr Zeit, sich mit den neuen Gefühlen in ihrem Inneren
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