Das Geheimnis der Inselrose - Historischer Roman
Rätsel aufgegeben. Schon die Griechen kannten jede
Menge Fabeln darüber. Plato, der ein Denker und weitgereister Mann war, glaubte, dass es im Inneren der Erde von Wasser durchflutete Höhlen gäbe.«
»Aber Pytheas, ein Seefahrer aus Griechenland, der schon vierhundert Jahre vor Christus lebte, kam dem Geheimnis damals auf die Spur«, ergänzte Wemke mit einem Lächeln. »Seine Reisen führten ihn bis zur Bernsteinküste, und er kam zu dem Schluss, dass der gute alte Mond hinter Ebbe und Flut stecken könnte.«
»Andere wiederum meinten, dass die Sonne das Wasser in sich aufnähme und dann gesäubert und entsalzt wieder zur Küste zurückschickte. Tedamöh, eine alte Hebamme hier auf der Insel, hat mir erzählt, dass manche Insulaner immer noch glauben, der Wassergott Neptun sei Herr über das Meer. Wenn er den Dreizack schwingt und das Wasser zurückruft, dann ist Ebbe. Und wenn er sich ausruht, weil ja auch ein Gott nicht unendlich viel Kraft hat, dann ist Flut. Aber wehe Neptun ist zu erschöpft und schläft länger als üblich! Dann laufen die Wellen mit gewaltigem Tosen immer höher und höher auf und überschwemmen die Insel.« Jeels’ Augen funkelten. »Es ist natürlich ein Ammenmärchen. So wie auch der Meeresgott nur der Fantasie entspringt. Man sollte nicht meinen, dass die Menschen hier seit Jahrhunderten Christen sind. In ihren Köpfen leben die alten Götter immer noch. Vielleicht glauben sie deshalb auch, meine Vorfahren seien dem Meer entstiegen.«
Wemke schaute ihn fragend an. Die Anspannung zwischen ihnen war verschwunden. Und während sie langsam am Wasser entlangschritten, erzählte Jeels ihr die Geschichte des ersten van Voss . Dann sprach er von seinem Vater und wie er selbst den Weg hierher auf die Insel gefunden hatte. Auch seinen Beruf als Arzt und seine besonderen Fähigkeiten sparte er nicht aus.
Wemke schien nichts Absonderliches daran zu finden. »Es ist ein Geschenk des Himmels«, sagte sie. »Gibt es nicht Musiker,
die ein absolutes Gehör haben, und begabte Maler, deren Können unnachahmlich ist? Deine besondere Fähigkeit ist eben eine andere. Aber sie hat doch nichts Teuflisches an sich.«
Es erleichterte ihn, dass sie so dachte. Er sprach mit ihr auch über die Brände der letzten Zeit und über den Verdacht, den die Insulaner zu hegen schienen.
Wemke legte nachdenklich einen Finger an die Nase. »Ich denke, die Menschen brauchen einen Sündenbock, und von ihnen selbst soll es natürlich möglichst keiner gewesen sein. Dir, Krischan und Onno gegenüber sind sie ohnehin voreingenommen. Vielleicht klärt sich die ganze Sache ja noch auf.«
»Das hoffe ich«, erwiderte Jeels seufzend. »Aber nun ist es genug mit Grübeln. Der Tag ist zu schön für schwere Gedanken.«
Sie setzten sich in den warmen Sand.
»Hast du schon einmal in den Nächten das Meer leuchten sehen?«
Wemke schüttelte den Kopf.
»Es geschieht manchmal nach Gewittern oder schwülen Tagen. Dann tragen, mitten in der Dunkelheit, die Kämme der heranrollenden Wellen einen hellen Schein. Als ob die Lichter aufgereihter Fackeln auf einmal gemeinsam aufflammen. Es scheint dann, als tauche eine feurige Seeschlange aus dem Meer auf, um ans Ufer zu gelangen. Ein ganz besonderer Anblick.«
Wemke lauschte mit geschlossenen Augen. Jeels’ warme, ruhige Stimme umspülte sie wie sanfte Wellen. Sie hätte ihm stundenlang zuhören können. Als Jeels schwieg, öffnete sie die Augen und blickte lange Zeit auf das Wasser. Dann erhob sie sich, und sie wanderten weiter. Ein kleiner Krebs krabbelte vor ihren Füßen vorbei. Jeels bückte sich und hob eine Muschel auf. »Schau nur, ein Engelsflügel.«
Und wirklich, der Sandfund sah aus wie ein einzelner Flügel
eines Himmelsboten. »Du musst den zweiten, den passenden finden. Dann wird ein Engel dir drei Wünsche erfüllen.«
»Wenn es doch nur so wäre«, dachte Wemke. Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als ewig so mit Jeels am Wasser entlangzulaufen. Sie wünschte sich, es gäbe nur sie beide, dazu den blauen Himmel und das weite Meer. Und natürlich Benno und Freya!
»Eigentlich müsste ich jetzt Angst um Benno haben«, sagte Jeels und zeigte auf den Hund, der seine Schnauze in den Schaum steckte, den die Wellen an den Strand rollten. »Krischan hat mich gleich zu Anfang davor gewarnt. Er glaubt, der Meerschaum könne Tollwut verursachen.« Beim Gedanken an den Freund musste er lächeln.
Benno lief durch das seichte Wasser auf eine Möwe zu, die sich natürlich
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