Das Geheimnis der Inselrose - Historischer Roman
gewesen war, wie lockend die streichelnden Hände. Und dabei hatte er niemals wirklich vorgehabt, sie zu seiner Frau zu machen. Sie hatte ihm alles gegeben, hatte ihm grenzenlos vertraut. Sogar ihrem geliebten Wangerooge hätte sie für ihn den Rücken gekehrt.
Sie würde ihm nichts sagen von dem Kind. Wozu auch? Michael hatte sich entschieden. Das Wissen darum stach ihr ins Herz wie ein Dolch. Reemke brauchte all ihre Selbstbeherrschung, um nicht zu weinen. Doch dann stieg die Wut wie Galle in ihr auf, und sie empfand plötzlich nur mehr Verachtung für Michael.
Sie richtete sich auf und warf den Kopf in den Nacken. Dann trat sie durch die Büsche. Michael war alleine zurückgeblieben. Mit dem Rücken zu ihr stand er da. Er hatte die Hände vor das Gesicht geschlagen, und seine Schultern bebten.
»Du hast mir etwas zu sagen.« Fast hätte Reemke ihre eigene Stimme nicht erkannt, so kalt klang sie.
Michael zuckte zusammen und wandte sich ihr erschrocken zu.
»Reemke!« Er streckte die Arme nach ihr aus, und sie sah die Sehnsucht in seinen Augen. Dann jedoch ließ er die Hände wieder sinken. »Es ist alles aus. Reemke, ich kann dich nicht
heiraten. Wenn ich hier bei dir bleibe, dann enterbt mich mein Vater.«
»Ich habe alles gehört«, sagte Reemke. Es gelang ihr, beherrscht zu klingen, obwohl sie an den Worten fast zerbrach. »Wenn du dein altes Leben für mich nicht aufgeben kannst, dann ist es an der Zeit, Lebwohl zu sagen.«
»Reemke, du …«
»Geh jetzt«, fiel sie ihm ins Wort. »Lass mich allein. Ich will dich nie mehr wiedersehen.«
»Ich reise schon morgen ab«, murmelte Michael mit gesenktem Blick.
Reemke glaubte Erleichterung in seinen Worten zu hören. Erleichterung darüber, dass das Gespräch mit ihr vorbei war. Er konnte es offenbar gar nicht abwarten, die Insel und vor allen Dingen sie hinter sich zu lassen. Hatte sich schon abgefunden mit dem, wozu der Vater ihn zwang. Alle Gefühle für Michael wichen in diesem Moment einer großen Enttäuschung. Er war schwach und hatte kein Rückgrat. Warum erkannte sie das erst jetzt? Jetzt, wo es zu spät war! Reemkes Knie begannen zu zittern. Der Duft der Wildrosen war betäubend süß, und ihr wurde schwindlig. Dieser Mann dort vor ihr widerte sie an. Sie musste fort von ihm.
Reemke drehte sich um. Langsam und mit erhobenem Kopf setzte sie einen Fuß vor den anderen, aufrecht und stolz. Dieser Stolz überdeckte all die Wut und all den Schmerz, an dem ihr Herz zu zerbrechen drohte.
Plötzlich hörte sie ihn hinter sich rufen: »Reemke, bitte warte! Wir können doch nicht so auseinandergehen. Mir tut das alles so furchtbar leid. Ich liebe dich! Ich habe wirklich an eine gemeinsame Zukunft geglaubt. Mein Leben wird schrecklich leer sein ohne dich an meiner Seite, das musst du mir glauben!«
Reemke aber ging, ohne sich ein einziges Mal umzuschauen. Es war zu spät. Nichts, was er noch sagte, könnte seinen Verrat
lindern, ungeschehen machen. Sie wankte durch die Dünen bis ans Meer. Ihre grünen Augen glitzerten in bitterer Entschlossenheit. Niemals wieder würde sie so leichtgläubig ihr Herz verschenken. Reemke warf die Schuhe von den Füßen und schritt ins Meer. Und dann, als die Wellen ihre Fesseln umspülten, beruhigte sie sich allmählich wieder. Sie sah wieder klar die Farben vor sich, die sie liebte: Das Blau des Himmels, das Grau des Meeres und das Grün der Insel. Die Sonne tauchte alles in ein goldenes Licht.
»Wangerooge«, flüsterte Reemke und spürte den Trost in diesem einen Wort. Diese Liebe war ihr geblieben. Sie würde an ihrer Verzweiflung nicht zerbrechen.
Nach dem heißen Sommer schien der Winter den Herbst zu überspringen. Die Büsche verloren ihr Laub, kaum dass es sich verfärbt hatte. Der Wind wehte heftig und kalt. Schon im November lag die ganze Insel wie begraben unter einer endlosen Schneedecke.
Für die Menschen auf Wangerooge begann eine entbehrungsreiche Zeit. Zwar lagen sie nachts unter dicken Decken, doch der kalte Wind drang durch die Fensterritzen ins Haus, und sie froren. Das Essen wurde einseitiger. Es gab noch Eier und Milch, aber immer öfter nur Brot und Wasser.
Viele Insulaner erkrankten in der kalten Jahreszeit, und Reemke und Tedamöh hatten alle Hände voll zu tun. Doch es kamen auch freudige Ereignisse auf sie zu. An einem Freitag wurden die beiden Frauen zum Haus des Inselvogts gerufen. Seine Frau Gesine lag in den Wehen. Tedamöh freute sich. Immer öfter arbeitete sie, ohne Lohn zu
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