Das Geheimnis der Inselrose - Historischer Roman
sich voll und ganz anvertrauen konnte. Sie war nicht mehr allein! Dieses Wissen bedeutete ihr alles.
Reemke pflückte eine der wilden Blumen und steckte sie sich ins Haar. Mit einem Lied auf den Lippen tanzte sie durch die Dünen. Michael wollte in ihrem geheimen Versteck auf sie warten, so wie jeden Tag.
Seit acht Wochen war der Maler nun auf Wangerooge, und Reemke konnte sich ein Leben ohne ihn nicht mehr vorstellen. Der Sommer hatte nicht nur auf der Insel, sondern auch in ihr selbst Einzug gehalten. Sie war aufgeblüht wie eine Rose. Michael war zur Sonne ihres Lebens geworden.
Heute würde sie seinen Vater kennenlernen. Er war gestern vom Festland gekommen, um einige Tage auf der Insel zu verbringen und dann gemeinsam mit dem Sohn nach Hause zurückzukehren. Doch die beiden Männer würden nicht alleine reisen. Sie und Michael hatten lange über alles gesprochen. Reemke würde die Insel verlassen, obwohl es ihr fast das Herz brach. Doch für den Geliebten war sie dazu bereit. Michael
sprach von einer Wohnung in dem großen Haus seines Vaters, von Bediensteten, die sich um alles kümmerten, und einer hellen Zukunft.
Sie wusste nun auch von der fremden Frau, die Michael eigentlich heiraten sollte. Beide Väter hatten die Ehe arrangiert. Doch Michael hatte sich gesträubt und war deshalb für einige Zeit hierher auf die Insel verbannt worden. Dass er nun ausgerechnet auf Wangerooge der Liebe seines Lebens begegnen würde, damit hatte sein Vater nicht rechnen können. Reemke lächelte in sich hinein. Der arme Mann! Er hatte den Sohn aus dem Weg haben wollen, um ihn bei seiner Rückkehr vor vollendete Tatsachen stellen zu können. Der Hochzeitstermin hatte schon vor Michaels Abreise festgestanden, und während seiner Abwesenheit sollte die ganze Feier organisiert werden. Und nun würde alles anders kommen. Michael hatte sich selbst eine Braut ausgesucht und war fest entschlossen, sie mit nach Hause zu bringen.
»Es ist richtig so. Ein Kind braucht seinen Vater«, flüsterte Reemke, um sich die Entscheidung zu erleichtern. Sie würden ein Kind haben. Lange hatte Reemke es nur vermutet, doch jetzt wusste sie es mit Gewissheit. Da war die Übelkeit am Morgen, und auch alle anderen Zeichen stimmten. Wenn sie es nicht deuten konnte, wer dann? Michael würde sich freuen. Er hatte von Kindern, von einer Familie gesprochen. Sie sehnte sich schon jetzt nach dem kleinen Wesen unter ihrem Herzen. Heute würde sie es ihm sagen. Was für ein Geschenk!
Reemke lächelte beim Gedanken daran. Fast war sie schon bei ihrem kleinen Versteck, einer dicht bewachsenen Stelle in den Dünen. Niedrige Bäume und Sträucher umringten die Senke wie ein kleines Wäldchen. Reemke lächelte. Sie würde Michael überraschen. Leise, ganz leise, schritt sie an dem dichten Buschwerk vorbei. Nur nicht auf einen Zweig treten! Das Knacken könnte sie verraten. Im Schutz eines stacheligen
Rosenstrauchs ging Reemke in die Hocke. Voller Vorfreude schlich sie näher an die Senke heran. Sicherlich aalte sich Michael schon, einen Grashalm zwischen den Zähnen, in der Sonne.
Als Reemke den Rand der Mulde erreichte, hörte sie erregte Stimmen. Sie wollte sich bemerkbar machen, doch die Worte, die zufällig an ihr Ohr drangen, schnürten ihr den Hals zu. Wie versteinert blieb Reemke hocken, atemlos, eine Hand vor den Mund geschlagen.
»Mag sein, dass es kindisch und unüberlegt war, doch ich habe mich in Reemke verliebt und ich möchte sie heiraten«, sagte Michael. Er klang aufgeregt. »Sie wird mit uns kommen.«
»Was für ein Unsinn«, antwortete eine zweite Stimme schroff.
»Das ist es nicht. Du wirst sie gleich kennenlernen. Vater, ich liebe dieses Mädchen.«
»Meine Einwilligung bekommt ihr niemals!« Unerbittlich klangen die Worte. »Michael, Klara wartet auf dich. Es ist alles organisiert. Du bist ihr versprochen!«
»Doch nur, damit Geld zu Geld kommt. Ihr habt mich gezwungen, der alte Warnecke und du. Ich liebe diese gestrenge Mamsell nicht, und ich kann sie nicht heiraten. Das ist mir hier auf der Insel in aller Deutlichkeit bewusstgeworden. Seit ich Reemke kenne, weiß ich erst, was Liebe ist.« Verzweiflung hatte sich in Michaels Stimme geschlichen.
»Junge, mach dich nicht unglücklich!«, gab der Vater zurück. »Was willst du mit diesem Mädchen anfangen? Es ist nicht von unserem Stand, kann wahrscheinlich nicht einmal lesen und schreiben. Eine Frau aus dem Dorf, nicht besser als unsere Dienstmägde. Der Klassenunterschied ist zu
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