Das Geheimnis der Inselrose - Historischer Roman
beobachteten. Ich war nicht beim Dankgottesdienst, den der Psalmendreher abgehalten hatte, weil doch unsere Mannschaft und das Schiff gerettet werden konnten. Die Einheimischen hielten mich für undankbar und natürlich auch für faul. Ein gesunder kräftiger Bursche, der keinen Finger rühren wollte.
Später dann versuchte ich es mit Arbeit, doch nichts wollte mir so recht gelingen. Irgendwie hatte ich immer das Gefühl, man könnte mir ansehen, dass ich den eigenen Vater auf dem Gewissen habe. Das machte mich unsicher, und mit den Gedanken war ich immer anderswo. Bald traute ich mir selbst nichts mehr zu. Und da ich nicht mit zur See fahren wollte und auch sonst den Menschen nicht geheuer war, ließ sich keiner mit mir ein. Irgendwann war ich eben nur noch Krischan, der Strandstreicher. Zu nichts zu gebrauchen, von niemandem gern gesehen. Im Herzen verstockt und tieftraurig. Denn glaubt nicht, dass mir dieses Leben gefiel. Doch ich nehm mal an, dass es die gerechte Strafe dafür war, den Vater ins Unglück gestürzt zu haben. Im Herzen allerdings hab ich mich immer danach gesehnt, wieder ein Mensch sein zu dürfen und kein Strandstreicher.« Er klopfte sich mit seiner großen Pranke auf die Brust.
Atemlose Stille folgte seinen Worten. Nur das leise Hecheln des Hundes war zu hören.
»Und, was denkt ihr jetzt, wo ihr alles wisst?« Der Bärtige schaute sich mit zusammengekniffenen Augen um. Für einen Augenblick konnte man wieder den trotzigen, innerlich zerrissenen Krischan erkennen.
»Ich denke, dass du genug gelitten hast«, sagte Wemke und legte ihm ihre Hand auf den Arm. »Am Tod deines Vaters trägst du keine Schuld. Ich glaube, das weißt du eigentlich auch. Jeder Mensch auf Erden hat sein Schicksal. Lass den alten Krischan, den übermütigen Burschen, wieder frei. Und
wenn dir das nicht gelingt, dann bleibe einfach der, den wir hier kennengelernt haben.«
Tedamöh nickte zustimmend, und Jeels goss Krischan neuen Branntwein in den Krug. Die Kerze auf dem Tisch flackerte vom Luftzug. Sie warf Licht auf das Gesicht des Hünen, über dessen Wangen nun zur Überraschung aller Tränen rollten.
»Ich hätt’s schon eher rauslassen sollen, was?«, schniefte Krischan. »Tut einfach gut, all die Qualen auf den Tisch zu legen. Und dass ich jetzt rührselig werde, das kommt nur vom Branntwein.«
Onnos Neugierde war noch nicht ganz befriedigt. »Sag mal, Krischan, hast du eigentlich in all den Jahren, wo du den Strand abgesucht hast, auch mal was Ordentliches gefunden? Einen Schatz oder so?«
Krischan wischte sich mit dem Ärmel die Tränen vom Gesicht. In seine Augen trat ein Glänzen. »Einmal, nach einer stürmischen Nacht im März, lagen am Strand zwei zugenietete Kisten. Sie blitzten schon von weitem in der Morgensonne. Und was glaubst du, was drin war?« Onno hing an Krischans Lippen. »Bester schwarzer Tee, direkt aus China. Als ich ihn aufbrühte, da ging mir das Herz auf. Schon die Teeblätter rochen so gut wie nur was, und es schmeckte! Dreißig Pfund Tee hatte ich damals. Und am selben Tag fand ich unweit der Stelle eine Blechkiste voll von bestem Pfeifentabak. Da war ich für kurze Zeit ein reicher Mann! Ein anderes Mal wurde eine Holzkiste mit Eiern angeschwemmt, alle noch frisch und brauchbar. Doch wenn ich Obst und Gemüse fand, sei es auch verpackt in Kisten, so schmeckte es zumeist nach Salz und Meer.«
»Ich glaube, ich werde jetzt auch zum Strandsucher«, sagte Onno spitzbübisch. »Vielleicht spuckt er ja für mich zumindest mal eine Flasche Branntwein aus.«
»Irgendwie sind wir doch alle Strandläufer auf der Suche
nach dem Glück«, sagte Wemke mit einem entrückten Lächeln. »Doch was das Leben für uns an Land schwemmt, das weiß keiner. Uns bleibt nur, das Gute und das weniger Gute anzunehmen und das Beste daraus zu machen.«
»Ich meine, das ist ein gutes Schlusswort für diese Nacht«, sagte Tedamöh bestimmt. »Meine Knochen wollen nicht mehr und mein Kopf ist …«
»…voller Branntwein?«, ergänzte Onno. Die anderen lachten.
Tedamöh gab ihm kopfschüttelnd einen leichten Klaps auf den Arm. »Mein Kopf ist voller Geschichten«, schloss sie nachdrücklich und schob den Stuhl zurück. »Ich glaube, trotz Regen und Kälte werde ich heute Nacht gut schlafen.«
»Und braust des Nachts das Meer mit Wut, so kommt doch der Morgen und macht alles gut«, sagte Krischan und begab sich zur Tür. »Eine geruhsame Nacht, alle miteinander.«
21
Der Regen hatte über Nacht nachgelassen,
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