Das Geheimnis der Inselrose - Historischer Roman
Teufel hat mich der Sog gepackt«, erzählte sie. »Tief heruntergezogen hat es mich und so herumgewirbelt,
dass ich nicht mehr wusste, wo oben und unten war. Meine Lungen wollten wohl platzen. Doch dann war da plötzlich das Seil. Ich habe es zwischen die Hände genommen und mich daran festgekrallt. Konnte es auch später nicht so einfach wieder loslassen. Ich habe es mit hierhergeschleppt, in die Kirche. Wie festgefroren hingen meine Finger daran.« Sie hielt ihre Hände hoch. Die Finger waren zu Krallen gebogen, blutig und blau angelaufen.
Ein anderer Insulaner hatte in letzter Minute einen Säugling, den der Sturm der Mutter aus dem Arm gerissen hatte, aus den Fluten gerettet. Mit dem Kind in den Armen und der fassungslos weinenden Mutter als Nachhut kam er im Kirchenraum an. Seine Hose war aufgerissen, das Baumwollhemd hing ihm zerfetzt vom Körper. Seewasser rann aus seinen Haaren und verdünnte das Blut, das ihm aus vielen kleinen Schnitten quoll. Hustend krümmte er sich zusammen und würgte. Helfende Hände zogen ihm das triefnasse Hemd vom Körper, reichten ihm Salben und wärmende Kleidung.
Solche Geschichten gab es viele. Und es war noch nicht zu Ende. Hilflos mussten die Menschen mit ansehen, wie die See mit gierigen Händen nach ihren Häusern und Gärten griff.
»Ist doch schlimm, das mit unseren Tieren«, raunte Onno Tedamöh leise zu. »Wenigstens sind die Kühe und Hühner alle zu den höheren Dünen gelaufen, aber die Ziege ist einfach zu dumm. Wieso wollte sie sich denn nicht aus dem Stall bewegen? Hast du gehört, wie sie noch einmal ›Mäh‹ gerufen hat, als wir gegangen sind? Als wollte sie uns Lebwohl sagen.« Tränen rannen ihm jetzt aus den Augen. »Und die Kaninchen! Meine lieben Kaninchen«, schniefte er. »Die können ja nichts sagen. Sind einfach in den Ställen sitzen geblieben und haben mit großen Augen geguckt.«
»Ach Onno.« Die Großmutter strich ihm über den Kopf. »Vielleicht haben sie sich ja doch noch retten können …« Sie
schwieg einen Moment und legte dann einen Arm um ihren weinenden Enkelsohn. »Zumindest sind wir beide hier. Das muss uns genügen.«
Trotz der schrecklichen Geschehnisse um sie her lag eine verhaltene Stille über dem Kirchraum. Es gab weder laute Schreie noch fiel jemand in Raserei. Selbst als irgendwo im Turm Fenster klirrend zu Bruch gingen, blieb es ruhig. Die Menschen hatten begriffen, was auf sie zukam. Die Dünen waren durchbrochen, das Wasser stand hoch, hatte schon Teile der Insel überschwemmt, und immer noch stieg es. Da half weder jammern noch klagen. Sie würden entweder alle miteinander überleben, geborgen hier im Kirchraum, oder gemeinsam in den Tod gehen. Letzteres schien immer wahrscheinlicher. Windwogen spuckten Äste, Sand und Treibgut gegen das Mauerwerk und die Fenster des Turms. Der Boden unter ihren Füßen schien zu schwanken.
Auch Wiltert befand sich unter den Flüchtlingen. Schon vor Stunden war Wasser in die untere Kammer gedrungen, und so war dem Vogt nichts anderes übriggeblieben, als ihn aus seinem Gefängnis zu befreien.
»Wir können ja den Kerl nicht einfach ersaufen lassen«, hatte er befunden.
Nun saß der Brandstifter, bewacht von zwei kräftigen Insulanern, dicht vor dem Altar und stierte vor sich hin. Die Arme hatte er um den Körper geschlungen. Das Haar hing ihm wirr ins Gesicht. Anfangs hatte er seine Mutter, die sich ihm nähern wollte, laut beschimpft und von sich gewiesen, doch mittlerweile beachtete er die Menschen und das Treiben um ihn her überhaupt nicht mehr. Wiltert schien sich in einer anderen, ganz eigenen Welt zu befinden.
Jeels war, seit er mit Krischan die Kirche betreten hatte, auf der Suche nach Wemke. Doch weder unten im Raum noch auf einer der Emporen fand er sie.
Als die Hebamme ihm über den Weg lief, griff er nach ihrem Arm. »Tedamöh!« Seine Stimme war drängend. »Was ist mit den Leuten aus dem Badehaus?«
Die Alte schüttelte den Kopf. »Sind, glaube ich, die Einzigen, die noch fehlen. Der Vogt ist mit einigen Männern unterwegs, ihnen entgegen. Mein Junge, du kannst nichts Besseres tun, als hier zu warten. Außerdem gibt es Arbeit für dich.« Sie nickte zu Dina, einer älteren Insulanerin, die mit schmerzverzerrtem Gesicht in der Kirchenbank saß und sich den Arm hielt. Am liebsten hätte Jeels sich der Bitte um Hilfe verweigert und wäre dem Vogt hinterhergeeilt. Stattdessen seufzte er tief auf und wandte sich Dina zu.
»Ich bin umgeknickt und wollte mich an meinem
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