Das Geheimnis der Inselrose - Historischer Roman
sollten, solange noch Zeit ist. Das Meer wird sich wohl nicht bis zu uns verirren, aber vielleicht werden wir vom Wasser
eingeschlossen oder die anderen brauchen unsere Hilfe. Lasst uns Essbares zusammenpacken, Decken, Mäntel, und losmarschieren. Auf dem Weg dahin können wir alle, die noch in ihren Betten liegen, wecken. Ich mein wohl, dass wir dem Pastor seine Kirche als Festung nehmen sollen. So haben wir es sonst auch gehalten. Im Turm, da kann das Wasser uns nichts.«
Jeels dachte bei sich, dass es an ihm gewesen wäre, diesen Vorschlag zu machen. War er nicht in gewisser Weise verantwortlich für die Menschen, die bei ihm Zuflucht gesucht hatten?
Lene war die Einzige, die protestierte. Sie wollte bleiben und sich in Gottes Hände geben, doch Jeels ließ es nicht zu. Wenn, dann würden alle gehen.
Nachdem die Entscheidung gefallen war, suchten sie alles Nötige zusammen, löschten das Feuer und machten sich auf den Weg.
Ein scharfer kalter Wind blies ihnen entgegen. Benno bellte aufgebracht und wandte sich mit gefletschten Zähnen der See zu, folgte ihnen dann aber winselnd und mit eingezogenem Schwanz.
Wie Perlen an einer Schnur aufgereiht wankten die Wanderer über die Insel dem Dorf zu. Dass sie alle über eine gute Kenntnis der Wege verfügten, war jetzt sehr hilfreich. Sie wählten einen Pfad durch die höheren Dünen.
Innerhalb von Minuten schien sich das Wetter drastisch zu verschlechtern. Der Wind brauste immer heftiger, und das Meer tobte. Sie hörten es mit dumpfem Dröhnen gegen die Dünen anstürmen. Jeels war es, als zittere die Erde.
Krischan stand auf einer Anhöhe und winkte den anderen, ihm zu folgen.
»Seht doch nur«, schrie er mit weit aufgerissenen Augen gegen den Wind. »Die See ist durch die Dünen gebrochen.«
Jeels folgte mit den Augen seinem ausgestreckten Arm. Ihm
blieb fast das Herz stehen. Von ferne sah er, wie das Wasser wild durch den Durchbruch schoss und sogleich wieder zurückgezogen wurde, um erneut gegen den Schutzwall gepeitscht zu werden. Schaum sprühte über die ganze Insel.
Der Sturm schien zu triumphieren, ihnen ins Gesicht zu lachen und zu brüllen: »Wohin wollt ihr fliehen, ihr Narren, vor der See? Es gibt keinen sicheren Ort mehr hier!«
Jeels spürte eine nie gekannte Angst in sich aufsteigen. Nicht ihm selbst galt dieses Gefühl, sondern Wemke. Wo war sie in all diesem Tosen? Hoffentlich schon im Turm. Waren die Wege überhaupt noch begehbar zwischen Dorf und Badehaus? Was, wenn Konrad sie nicht hatte gehen lassen? Was, wenn Wemke die Gefahr nicht erkannte und bei ihrem Ehemann ausharrte? Jeels biss sich auf die Lippen. Dann würde er sie holen müssen! Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Er spürte das Blut in seinen Ohren rauschen und beschleunigte seine Schritte. Die Ungewissheit trieb ihn voran.
»Hoffentlich ist nicht schon das ganze Dorf überflutet«, schrie Krischan.
Als Antwort schallte ihnen Geläut entgegen. Schaurig klang es durch die Nacht. Ein Sturmgeläut in der Not, das die Menschen zu sich rief.
»Und das ist nun Wangerooge sein Totengesang.« Dodos Stimme zitterte. »Weh uns! Und ade, du schöne Seehundjagd.«
Wie um seine Worte noch zu bestätigen, fegte ein besonders heftiger Windstoß dem Jäger die Mütze vom Kopf und nahm sie mit sich. Krischans Blick folgte der Kopfbedeckung. Plötzlich blieb er stehen und wies aufgeregt zum Friedhof hinüber.
»Schaut nur mal an!« Das Grauen in seiner Stimme war nicht zu überhören. »Herrgott im Himmel, die Särge schauen aus der Düne. Sie werden auf den Strand rutschen. Heut finden selbst die Toten keinen Frieden!«
»Kommt schon, weiter«, trieb Dodo sie voran. Er schien
wieder neuen Mut gefasst zu haben. »Selbst wenn das Wasser die Leichname aus ihren Wohnstätten reißt, wir können da nix dran tun. Noch bin ich quicklebendig, und das soll auch so bleiben!«
»Ein nasses Grab anstelle von weichem Dünensand«, dachte Jeels und schauderte bei der Vorstellung von halbverwesten Leichen, die auf das offene Meer hinausgetrieben wurden. Hoffentlich würde ihnen dieser Anblick erspart bleiben.
Auf der nächsten Anhöhe suchten seine Augen im Mondlicht nach einer Grenze zwischen Insel und Meer, doch er fand sie kaum mehr. Es gab nur noch Wasser, das drohend anstieg. Die Massen türmten sich übereinander und fraßen sich weiter und immer weiter voran. Das Geheul des Sturmes ließ selbst die alte Lene ihre Hände an die Ohren legen.
Das Wasser reichte ihnen in den Senken der Dünen schon
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