Das Geheimnis der Inselrose - Historischer Roman
bis zu den Knien. Es machte das Vorwärtskommen schwer. Obwohl seine Füße nass waren, spürte Jeels die Kälte nicht. Er spürte kaum noch etwas außer dem Drang, so schnell wie möglich voranzukommen.
Benno hielt sich eng an die Menschen. Ihm blieb nichts anderes übrig als durch die Senken zu schwimmen. Seine treuen Augen blickten verstört auf das tosende Grauen um sie her.
Je näher die Flüchtenden ihrem Ziel kamen, desto mehr Menschen schlossen sich ihnen an. Zum Glück leuchtete der Mond dem traurigen Zug. Väter und Mütter trugen Bettzeug auf den Köpfen und Lebensmittel in Säcken oder Kiepen auf dem Rücken. Die Männer brüllten den Frauen zu, die Kinder gut festzuhalten, damit niemand ins Meer getrieben würde. Die Frauen schrien wiederum die Kinder an, die nicht wussten, wie ihnen geschah und nur lautstark weinten. Jeels schaute in entsetzte und gleichzeitig entschlossene Gesichter. Die Insulaner waren darauf gefasst, was kommen konnte, und sie wollten nur eins: ihr Leben retten!
Im Dorf sah es fürchterlich aus. Das Wasser hatte sich eine breite Schneise bis zum Turm gebrochen. Die tiefer gelegenen Gärten und Straßen waren schon vollständig überflutet. Menschen rannten weinend und schreiend aus ihren Häusern, viele mit nichts als dem, was sie am Leib trugen. Das Wasser hatte das Herz der Insel erreicht. Es war weiter vorgedrungen, als es sich die Insulaner in ihren schlimmsten Träumen hätten vorstellen können. Manche versuchten letzte Habseligkeiten zu retten, bevor ihr Heim mit mächtigem Krachen zu einem traurigen Trümmerhaufen zusammenstürzte, der von den Fluten davongetragen wurde. Anderen öffneten die Tore der Ställe, um den Tieren die Möglichkeit zur Flucht zu geben. Grausig schallte das angsterfüllte Brüllen des Viehs durch das Dorf.
Der Park des Konversationshauses hatte sich in einen See verwandelt. Gespenstisch wogten die Bäume und Sträucher hin und her und bogen sich im Sturm wie schlanke Gerten.
So als habe ihn nie ein Dünengürtel umgeben, stand der alte Turm frei im Sand, mehrere Fuß hoch im Wasser. Die Hügel waren mitsamt den Häusern, die darauf gestanden hatten, hinweggerissen worden.
Von der Kirchentreppe schallten ihnen Rufe entgegen. »Kommt hierher ins Trockene!« Hände streckten sich nach den Ankömmlingen aus.
»Und Wangerooge ward hinweggefegt, und seine Stätte kennt man nicht mehr«, lamentierte Janohm weinerlich und zog die Decke enger um sich. Er saß auf einer Kirchenbank und wiegte sich vor und zurück.
»Du lernst mich gleich erst mal richtig kennen, wenn nicht bald Ruhe ist mit diesem Trauergesang«, zischte Tedamöh ihm zu. »Als ob deine Klagelieder uns weiterhelfen würden. Fass lieber mit an und hilf Dina. Sie hat sich an der Hand verletzt. Oder nimm eines der verschreckten Kinder auf den Schoß.«
»Onno«, sagte sie zu ihrem Enkel, der bislang an der Kirchentür gestanden und Ankömmlingen geholfen hatte, ihr Hab und Gut zu bergen, »geh mal dem Hinrich Luts zur Hand. Er schafft zusammen mit dem Pastor Bettstätten für die Gebrechlichen.«
»Leute, könnt ihr mal mit anfassen. Unten steht die Wirtin mit Flüssignahrung«, drang die laute Stimme des Bäckers zu ihnen herüber. Er schleppte Säcke voller Brot und Backwaren in die Kirche.
Nach und nach hatten sich alle Inselbewohner in der Turmkirche eingefunden. Sie waren dem Läuten der Glocke gefolgt und verteilten sich auf die Bänke und Logen. Die Wachskerzen in den Leuchtern auf dem Altar spendeten ein tröstliches Licht. Viele Augenpaare hingen an dem Ölgemälde an der Kanzelwand, das das Abbild Jesu zeigte. Der Organist hatte versucht, mit seinem Spiel das Heulen des Sturms zu übertönen. Doch obwohl er alle Register zog, wollte es ihm nicht gelingen.
Alte Menschen, in wärmende Decken gehüllt, sowie in Bettzeug gewickelte Kinder und Säuglinge wurden von geschäftig umhereilenden Männern und Frauen versorgt. Krüge mit Wasser und Bier wurden gereicht, dazu Schmalzbrote. Für die Kinder gab es Milch. Leises Weinen klang aus verschiedenen Ecken des Kirchenraums. Jemand übergab sich vor lauter Angst in einen Eimer, und man tätschelte ihm beruhigend den Rücken. Einige Menschen beteten. Etliche trugen nichts als dünnes Nachtzeug und zitterten vor Kälte und Nässe. Manche hatten Schreckliches erlebt und standen unter Schock.
Eine alte Frau war in eine tiefe Wassersenke geraten und hatte nur mit Hilfe des Seils eines Nachbarn gerettet werden können.
»Wie der
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