Das Geheimnis der Inselrose - Historischer Roman
den südlichen Häusern. Die Dünen boten nicht mehr genügend Schutz. Viele Insulaner, die schon umgezogen waren, sahen sich zum zweiten Mal vertrieben. Am Ende war fast das ganze nördliche Dorf abgebrochen, und eine verlassene trostlose Einöde blieb an seiner Stelle zurück.
Jeels sah Frauen am Meeressaum stehen und weinen. Männer hoben die Fäuste und spuckten in die See, verfluchten sie. Doch weder das eine noch das andere rührte die graue Fläche. Unschuldig und leise rauschend trieb das Meer seine Wellen an den Strand.
Am Nachmittag, nach langen arbeitsreichen Stunden, wanderte Jeels mit Benno am Wasser entlang. Ein scharfer Wind blies ihm um die Ohren. Die Schaumkronen der Wellen umspülten den Strand und luden immer noch mehr als nur Seetang und Muschelschalen ab.
Jeels ließ sich auf einen großen Stein sinken und sah auf das Meer hinaus. Er wünschte sich, Wemke wäre jetzt hier. Warum nur hatte sie nicht einfach mit ihm kommen können? Er sah keine Schuld an ihr, nichts, dessentwegen sie noch bei
Konrad hätte ausharren müssen. Wemke hoffte immer noch auf eine Aussprache mit ihm, sehnte sich nach seinem Segen. Doch Jeels konnte sich eine solche Wende nicht vorstellen. Nicht nach dem, was Konrad beobachtet hatte und zu wissen glaubte.
Das Badehaus, in dem sich Konrads und Wemkes Wohnung befand, lag in Strandnähe. Bislang hatten die Dünen es geschützt, doch schon bei der Weihnachtsflut war es in Gefahr gewesen. Der Vogt hatte Wemke geraten, das Haus zu verlassen, doch sie wollte nicht ohne Konrad gehen. Und dieser verschloss sich allen Bitten.
Jeels seufzte tief. Er sorgte sich schrecklich um Wemke, um ihre Sicherheit und die des Kindes. Doch er wollte sie zu nichts zwingen. Sie wusste, dass ihr seine Tür Tag und Nacht offen stand. Ihm blieb nichts anderes übrig, als auf sie zu warten.
Am späten Abend des Neujahrstags drehte der Wind auf Nordwest. Er nahm von Stunde zu Stunde an Heftigkeit zu. Mit aufkommendem Hochwasser brachen die Wellen erneut durch die mühsam geflickten Stellen in den Dünen. Sie überspülten alle Niederungen der Insel und verwandelten Wangerooge in eine wilde Wasserwüste. Vereinzelt ragten Dünenhügel und Erhöhungen aus der glatten nassen Fläche hervor. Währenddessen lagen die meisten Insulaner schon unruhig schlafend in ihren Alkoven und bekamen von dem Ausmaß der Katastrophe nichts mit.
Krischan hatte während des ganzen Tages immer wieder sorgenvoll das Wetter beobachtet und hing auch jetzt am Fenster. Von den Dünendurchbrüchen ahnte er allerdings nichts. Auch die alte Lene, der Netzknüpfer Ode Pleins und Dodo Lammers, denen Jeels’ Kate zum Unterschlupf geworden war, waren noch wach und saßen um den Küchentisch versammelt.
Im Kamin brannte ein Feuer und beschien ihre sorgenvollen Gesichter. Ein Rauschen und Brausen ging über das Haus hinweg und ließ die Balken ächzen.
»Nach dem Kalender hätten wir Ebbe kriegen müssen, aber der Sturm hat nicht aufgehört zu toben. Und jetzt steht das nächste Hochwasser schon an. Kinder, mir ist bange!«, sagte Krischan vom Fenster aus.
»Wenn wir nur inständig genug beten, dann wird alles gut«, sagte Lene mit ihrer demütigsten Altweiberstimme und tupfte sich mit einem Taschentuch über die Augen. »Alles geschieht, wie der Herr es will.« Sie faltete die zitternden Hände.
»Pah, der Herr!«, schnaubte Ode Pleis. »Mir ist egal, wem wir dieses verdammte Wetter zu verdanken haben, ob dem Mond, dem blanken Hans, Neptun oder irgendeinem anderen Gott. Ich will nur eins: nicht ersaufen!«
»Versündige dich nicht!« Lene hob mahnend den Zeigefinger. »Du sollst keine anderen Götter haben neben mir. Das Leben ist wie Ebbe und Flut, ein Kommen und Gehen. Der Herrgott weiß, was er tut. Und er weiß auch, warum er uns dieses wilde Wasser schickt.«
Der abfällige Blick, mit dem Ode sie bedachte, sagte mehr als Worte. »Es ist aus mit uns, das glaub ich eher. Und kein Gott kümmert sich einen Deut darum. Da ist der da oben nicht besser als die Regentschaft auf dem Festland.«
Dodo Lammers ignorierte das Streitgespräch der beiden. Er hatte fiebrig mit den Füßen scharrend in der Nähe des Feuers gesessen. Jetzt sprang er ruckartig auf und ergriff Jeels’ Arm.
»In der Nacht habe ich schwer geträumt, und den ganzen Tag schon ist in mir drin eine seltsame Unruhe.« Er legte eine Hand auf sein Herz. »Da stimmt was nicht mit dem Wetter, das rieche ich. Ich glaube, dass wir uns ins Dorf hin aufmachen
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