Das Geheimnis der Inselrose - Historischer Roman
»Will bei Wemma bleiben.«
Hubert warf sich seinen Seesack über den Rücken und öffnete die Außentür. Geläut klang schwach zu ihnen herüber. Dann riss eine Böe Hubert die Klinke aus der Hand und die Worte fast von den Lippen.
»Gerlind, nun komm endlich. Die Fluten haben an einigen Stellen die Dünen durchbrochen. Das Wasser läuft uns schon über die Füße. Wir müssen dringend los.«
Die Dienstbotin wandte sich mit einem letzten bittenden Blick Wemke zu, doch diese schüttelte nur traurig den Kopf. »Ich kann nicht.«
Als Gerlind in die Hocke ging und die Arme nach Freya ausstreckte, versteckte sich das Kind hinter Wemkes Beinen und ließ sich nicht hervorlocken. Mit bebenden Lippen eilte Gerlind hinaus. Die Tür fiel hinter ihr ins Schloss.
»Konrad, bitte mach auf!« Wemke hämmerte gegen das Holz. »Alle sind fort und bringen sich in Sicherheit. Wir müssen das auch tun. Ich flehe dich an, komm mit uns! Wir müssen ins Dorf zu den anderen, oder wir werden ertrinken.«
Es kam keine Antwort. Dann, als ob sie es Wemke abgeschaut hätte, schlug Freya mit ihren kleinen Fäusten auf die Tür ein.
»Feia will nicht ertrinken«, sprach sie Wemke nach. Dann rief sie ganz laut: »Nicht Wasser, hopp hopp!« So sagte Krischan immer, wenn er die Kleine auf dem Schaukelseehund reiten ließ.
Für einen Augenblick wurde es ganz still. Selbst der Sturm schien den Atem anzuhalten. Dann, unendlich langsam, öffnete sich die Tür einen Spaltbreit. Konrads Blick wanderte zu dem Kind hinab. Entsetzen lag auf dem bleichen Gesicht des Arztes. Er sah fiebrig aus und seine Hände zitterten, doch Freyas Stimme schien ihn endlich aus seiner Erstarrung gelöst zu haben.
»Freya«, flüsterte er und sah Wemke vorwurfsvoll an. »Warum hast du sie nicht mit Hubert fortgeschickt?«
»Freya wollte nicht ohne mich gehen. Und ich gehe nicht ohne dich. Konrad, bitte!« Wemke fing an zu weinen. »Noch können wir es gemeinsam schaffen. Tu es für das Kind!«
Konrad hob Freya hoch, die sich eng an ihn schmiegte und ihm Küsschen auf die Wange drückte. Ihre Liebe riss ihn aus seiner Verbitterung, öffnete ihm die Augen für das Wesentliche. War er des Wahnsinns, das Leben dieses kleinen Wesens für seine gekränkte Ehre aufs Spiel zu setzen? Mit zitternden Fingern strich er ihr über das Gesicht. Gott im Himmel, was war er für ein Narr gewesen.
Noch vor einer Stunde hatte er die drohende Sturmflut freudig begrüßt. Sie schien ihm von Gott gesandt. Er hatte nichts anderes herbeigesehnt als düstere Nacht und Tod. Es war ihm gewesen, als seien er und das Meer eines Sinns und hätten befunden, dass Wemke und Jeels ein gerechtes Schicksal ereilen würde. Und sein Leben war ihm sowieso nichts mehr wert. Doch an Freya hatte er nicht gedacht.
Jetzt erst ging Konrad auf, dass es auch Unschuldige treffen würde. Sein geliebtes Kind durfte nicht ertrinken. Wie hatte er
glauben können, eins mit dem Meer zu sein? Es nahm sich einfach, wonach immer es ihm verlangte. Und was die See nicht haben konnte, wurde zerstört. So wie er die Liebe zwischen Jeels und Wemke hatte zerstört sehen wollen. Konrad stellte das Kind vorsichtig wieder auf den Boden und fuhr sich mit zitternden Händen durchs Haar. Was hatte die Eifersucht nur aus ihm gemacht? Wollte er so wirklich sein? Grausam und rachsüchtig?
In all den Jahren hatte er seine eigenen Gefühle niemals höher bewertet als die anderer. Ihn entsetzte, welch zerstörerische Macht enttäuschte Liebe haben konnte. Sie hatte ihn blind gemacht. Doch jetzt sah er wieder klar. Freya und Wemke mussten in Sicherheit gebracht werden. Sofort.
»Komm!«, forderte er Wemke auf und ging entschlossen zur Wohnungstür. Dort schlüpfte er in seinen Mantel und nahm Freya auf den Arm. Wemke stolperte schluchzend hinter den beiden her.
Ihr entfuhr ein Schrei angesichts der Hölle, die sie draußen vorfanden. Auch Konrad starrte fassungslos auf die scheinbar unendliche graue Fläche. Es gab kein Land mehr, nur vereinzelt ragten noch höhere Dünen aus dem Wasser hervor. Der Himmel hing so tief, dass er die Wassermassen fast zu berühren schien. Graue Wolken schwebten wie zerrissene Vorhänge über das wütend tobende Wasser. Das donnernde Tosen riss Konrad aus seiner tranceartigen Versteinerung.
Er setzte sich Freya auf die Schultern. »Halt dich fest, Liebes!«, rief er. Er wusste nicht, ob seine Worte die Kleine durch den Sturm erreicht hatten, doch sie umklammerte ihn instinktiv mit ihren
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