Das Geheimnis der Inselrose - Historischer Roman
größeren Krankenhaus gearbeitet. Wieder und wieder musste er dort erleben, wie schlecht gerade die weiblichen Patienten von
den Ärzten behandelt wurden. Sie wurden gedemütigt und ließen die Untersuchungen zumeist beschämt über sich ergehen. Viele Kranke starben lieber zu Hause, als bei einem der überheblichen Doktoren Hilfe zu suchen. Einer Eingebung folgend beschloss Thomas, gemeinsam mit einer guten Krankenpflegerin, eine Praxis speziell für Frauen zu eröffnen. Sie kamen in Scharen zu ihm! Er nahm sich Zeit für seine Patientinnen, zerstreute ihre Angst und galt bald als recht geschickt, insbesondere im Bereich der Geburtshilfe. Als Junggeselle war er ein begehrter Gast bei den Müttern unverheirateter Töchter, doch für eine Beziehung fühlte er sich damals nicht geschaffen. Es stand ihm nicht der Sinn danach, sich auf Dauer jemandem zu verpflichten. Die Verantwortung für seine Patienten genügte ihm voll und ganz. Und diese endete am Abend jedes Arbeitstages. Wenn Thomas die Tür der Praxis hinter sich schloss, dann bemühte er sich, im gleichen Augenblick alles zu vergessen, was sich hinter den Mauern des Hauses abgespielt hatte. Dabei half ihm seine große Leidenschaft, die Musik. Die Geige war seine Geliebte, und er spielte an den freien Abenden oft gemeinsam mit Musikerfreunden.
Als seine Schwester ihren Besuch ankündigte, hatte ihn das mit Freude erfüllt. Seine Familie bestand nur noch aus ihr. Thomas liebte Elise sehr, obwohl ihre wehleidige Art ihm manchmal auf die Nerven ging. Als die Schwangerschaft seiner Schwester weiter voranschritt, äußerte sie den Wunsch, bis zu ihrer Niederkunft in seiner Nähe zu bleiben. Sie verbrachten schöne Tage miteinander, und die Vorfreude auf den neuen Erdenbürger war groß.
Drei Wochen vor dem errechneten Termin hatte seine Schwester über Unwohlsein und Schmerzen in der Brust geklagt. Dies war schon öfter vorgekommen, und anfangs hatte er an solchen Tagen das Haus nicht verlassen, nicht einmal, um in der Praxis nach dem Rechten zu sehen. Doch selbst die
gründlichste Untersuchung hatte keinen Aufschluss über ihr Leiden geben können. In Thomas war der Verdacht aufgestiegen, dass Elise ihn einfach nur ans Haus binden wollte. Sie war überängstlich und hasste es, in ihrem Zustand alleine zu sein.
An jenem Abend hatte er die angstvollen Bitten seiner Schwester abgetan und war dem Ruf eines Freundes gefolgt, der an diesem Tag einen begnadeten Pianisten als Gast beherbergte. Er versprach, nur kurz auszugehen. Doch als der Pianist ihn bat, bei seinen Vorträgen den Geigenpart zu übernehmen, vergaß er alles um sich herum.
Seine damalige Haushälterin war ihm schließlich mit der Kutsche gefolgt. Bei seiner Schwester hätten urplötzlich die Wehen eingesetzt, und sie habe rasende Schmerzen in der Brust. Während der Fahrt überschlugen sich in Thomas’ Kopf die Gedanken. Er, der längst vom Beten abgekommen war, versprach dem Allmächtigen alles, wenn er nur Elise beschützen würde. Doch es war zu spät gewesen. Bei seiner Ankunft war Elise bereits tot.
Fassungslos hatte er auf seine Schwester gestarrt, die im Gästezimmer auf dem Bett lag und keinen Atemzug mehr tat. Wie rasend war er in seinem Bemühen gewesen, sie ins Leben zurückzuholen - doch vergeblich.
Warum genau ihr Herz aufgehört hatte zu schlagen, konnte man nicht mit Bestimmtheit feststellen. Scheinbar war es nicht ganz gesund gewesen.
Von Trauer und Schuldgefühlen überwältigt, verlor Thomas fast den Verstand. Er allein war für den Tod seiner Schwester verantwortlich. Hätte er ihre Beschwerden ernst genommen und wäre an diesem Abend bei ihr geblieben, so hätte er sie sicherlich retten können. Doch selbstsüchtig, wie er war, hatte er sie im Stich gelassen, als sie ihn am meisten brauchte. Mutterseelenallein und unter schrecklichen Schmerzen war sie gestorben.
Tagelang schloss Thomas sich im Haus ein. Die Beerdigung erschien ihm wie ein Alptraum. Nachbarn und Patienten kamen, um ihm ihr Mitgefühl auszusprechen. Alle glaubten, er habe sein Bestes getan, doch Thomas Hanken kannte die Wahrheit. Und er sah die vorwurfsvollen Augen der Haushälterin, die schwieg.
Die Erinnerung ließ ihn tief aufseufzen, und das Herz wurde ihm schwer. Doch dann zwang Thomas die Gedanken weiter. Nach dem Tod der Schwester, bei dem auch das Kind in ihrem Leib gestorben war, hatte er sich von allem getrennt, was Erinnerungen barg. Das Haus wurde verkauft, die Praxis gab er auf und ebenso das
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