Das Geheimnis der Inselrose - Historischer Roman
Jahren arbeitete er nun schon als Arzt in der Praxis des Vaters. Jeels liebte seinen Beruf. Während des Studiums hatte er wie ein Schwamm alles aufgesaugt, was irgendwie mit dem Beruf des Mediziners zusammenhing. Sein Denken war ausschließlich um das gekreist, was ihm in den Hörsälen, Labors und der Bibliothek der Hochschule vermittelt wurde.
Das Leben der anderen Studenten, die sich nach den Stunden so gerne im Schatten der großen Buche getroffen hatten, war nicht das seine gewesen. Ihm lag nichts an Diskussionen bei rotem Wein und langen Abenden in den Gaststuben der Stadt. Er saß lieber über den Büchern und betrachtete fasziniert das Zusammenspiel all dessen, was einen Menschen ausmachte.
Nach seinem überaus erfolgreichen Studienabschluss war Jeels nur wenig Zeit zum Atemholen geblieben. Die Frage nach dem, was er mit seinem Wissen anfangen würde, erübrigte sich, als sein Stiefvater erkrankte. Von einem Tag auf den nächsten hatte Jeels die Patienten versorgen müssen. Es war ein Sprung ins kalte Wasser gewesen. Und zu seiner großen Verwunderung stellte er fest, dass seine Tätigkeit ihn außerordentlich befriedigte. Die Menschen kamen von Krankheit gebeutelt, und er vermochte ihnen zu helfen, zumindest den meisten. Das erfüllte Jeels mit großer Dankbarkeit. Als sein Vater sich erholte und wieder mit anpacken konnte, war es beschlossene Sache gewesen. Jeels stieg in die Praxis mit ein. Sie waren ein gutes Team, doch in letzter Zeit bereitete die Gesundheit
des Vaters Jeels zunehmend Sorgen. Immer schien der Ältere müde zu sein, und in der letzten Woche hatte er sich an zwei Nachmittagen früher nach Hause fahren lassen.
Forschend sah Jeels ihn jetzt an, doch das Gesicht des Vaters war entspannt, und seine Augen leuchteten. Dies brachte Jeels die lobenden Worte wieder ins Bewusstsein.
»Ich freue mich, dass ich dir eine Stütze sein kann«, sagte er schließlich lächelnd.
»Du bist viel mehr als das, und du weißt es! Ich werde alt und klapprig. Vielleicht sollte ich mir künftig an den Nachmittagen keine Patienten mehr aufladen.«
Jeels’ Lächeln erstarb. »Bist du sicher, dass dir nichts fehlt? Ich mache mir schon seit einiger Zeit Sorgen um dich.«
»Das habe ich mir fast gedacht. Aber, mein Sohn, ich möchte mir an diesem Morgen nicht den Appetit verderben mit Geplauder über meinen Gesundheitszustand.« Betont munter kamen die Worte aus seinem Mund… »Wir verschieben das Gespräch auf den Abend, ja?«
»Also gut«, gab Jeels nach. »So soll es sein. Und Vater, die freien Nachmittage halte ich für eine ausgezeichnete Idee.«
Als sie das Esszimmer betraten, war der Tisch, über dem ein Kristalllüster glitzerte, bereits mit feinem Porzellan und Silberbesteck gedeckt. Aus dem großen Korb duftete es nach warmem Brot. Benno ließ sich mit einem wohligen Laut am Ofen nieder. Dr. Hanken griff nach einem Holzscheit und legte ihn auf die Glut. Nach der Kälte draußen empfand er die Wärme des Esszimmers als sehr angenehm. Eine kurze Zeit blieb er vor dem Feuer stehen, die knochigen Schultern müde nach vorne gebeugt.
Wie schnell die Zeit verflog! In den letzten Wochen waren seine Gedanken immer wieder in die Vergangenheit gewandert. Vielleicht war das ganz natürlich, wenn man das Ende des eigenen Lebens vor Augen hatte. Am liebsten erinnerte
Thomas Hanken sich an die Zeit, als Jeels noch ein kleiner Junge gewesen war. Mit Begeisterung hatte er jeden noch so kleinen Schritt des Kindes beobachtet und ihn, gemeinsam mit Hilde, liebevoll begleitet auf seinem Weg durch Schule und Studium. Ein schlaues Kerlchen war Jeels von Anfang an gewesen. Und wissbegierig wie kein zweiter. Schon als kleiner Junge hatte er ihn mitgenommen in die Häuser der Patienten. Es war eine Freude, Jeels zum Assistenten zu haben oder ihn mit kranken Tieren umgehen zu sehen. So war es keine Frage, welchen Weg sein Sohn als junger Mann einschlagen würde. Dass er diese besondere Gabe besaß, war in seinem Beruf natürlich ein zusätzlicher Segen. So lange es ging, würde er dem Jungen zur Seite stehen, doch mehr und mehr spürte er, wie seine Kräfte erlahmten. Wie lange würde er es noch verbergen können? Schon in der letzten Woche hatte er sich kaum noch in die Praxis schleppen können. In immer kürzeren Abständen musste er auf die Medikamente zurückgreifen.
Seine Lippen bebten, doch energisch verdrängte er die aufkommende Verzweiflung, griff nach dem Stuhl und setzte sich Jeels gegenüber.
Hilde kam aus
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