Das Geheimnis der Inselrose - Historischer Roman
Füßen waren alt und ausgetreten. Der Hut, den er gegen die helle Morgensonne tief ins Gesicht gezogen hatte, war speckig und abgegriffen. Den wollenen Mantel hätte wohl mancher längst abgelegt, doch Dr. Hanken hing an dem gemütlichen Kleidungsstück. Zu seinen Füßen lag Benno, der Schäferhundrüde. Thomas Hanken stützte den Kopf in die Hände. Von fern her drang das Läuten von Kirchenglocken zu
ihm herüber, doch nicht die Glocken waren es, nach denen er unruhig lauschte.
Ein Schatten schob sich vor ihn. »Soll ich ihn wecken?«
Der Arzt schüttelte den Kopf, während er die Frau in dem graublauen Baumwollkleid mit dem steifen weißen Kragen liebevoll musterte. »Lass nur, Hilde. Er hat es sich verdient, noch ein wenig zu schlafen.«
Die rundliche Haushälterin mit dem grauen Dutt arbeitete schon sehr lange für den Arzt. Sie genoss alle Vorteile, die eine Frau in ihrer Stellung haben musste und war vierundzwanzig Stunden am Tag im Dienst für die beiden wichtigsten Menschen in ihrem Leben. Sie hatte als Kindermädchen für den kleinen Jeels, den Ziehsohn von Dr. Hanken, angefangen. Das war vor fünfundzwanzig Jahren gewesen. Mittlerweile war sie selbst nicht mehr die Jüngste, doch ein Leben außerhalb des Haushaltes dieser beiden Männer konnte sich Hilde beim besten Willen nicht mehr vorstellen.
»Ich bereite schon mal das Frühstück vor«, beschloss sie resolut und ging wieder hinein. Als der Arzt die Treppe im Haus knarren hörte, stand er auf, öffnete die Tür und sah dem jungen Mann, der auf ihn zukam, entgegen. Das dunkle Holz des Geländers glänzte. Wie hatte sich Hilde immer empört, wenn Jeels als Kind darauf die Treppe hinuntergerutscht war. Dr. Hanken lächelte bei der Erinnerung daran.
»Guten Morgen«, rief er dem Jüngeren freudig zu. »Es ist gut, dass du kommst. Mir steht der Sinn nach Tee und frisch gebackenem Brot.«
»Morgen, Vater.« Jeels nickte seinem Ziehvater zu und trat für einen Moment nach draußen. Er streckte sich der Sonne entgegen, zog dann aber fröstelnd die Schultern hoch und verschwand wieder im Haus. Dr. Hanken folgte ihm.
»Ich bin froh, dass wir heute nicht in die Praxis müssen«, sagte Jeels und unterdrückte ein Gähnen.
Der Ältere klopfte ihm auf die Schultern. »Du hast dich in den letzten Tagen tapfer geschlagen. Ich habe selten so viele Patienten in einer Woche erlebt. Es muss daher rühren, dass sich deine besondere Begabung rasch herumspricht.« Er wies auf die Hände des jungen Mannes. »Es gibt keinen, der sich auf das Einrenken von Wirbeln und Gelenken besser versteht als du!«
Stolz schaute er dem jungen Mann ins Gesicht, doch dieser senkte den Kopf. Besagte Fähigkeit hatte er nicht im Studium erlernt, wie viele wohl zu glauben schienen. Sie war ein Geschenk, und Jeels wusste nicht, ob er dankbar dafür sein sollte. Das erste Mal hatte er als Kind die besondere Feinfühligkeit seiner Hände bemerkt. Während eines Gottesdienstes waren seine Finger über das aufgeschlagene Liederbuch gefahren, und er hatte ein Haar erspürt, obwohl drei Seiten Papier dazwischenlagen. Damals hatte er geglaubt, jeder Mensch wäre so empfindsam. Als ihm bewusst wurde, dass dem nicht so war, machte er ein Geheimnis aus seiner Begabung. Mit dem roten Haar und den grünen Augen in seinem runden Gesicht war er bereits mehr als genug Spott ausgesetzt. Da brauchte es nicht noch diese Besonderheit.
Ihn selbst hatte seine Fähigkeit allerdings fasziniert. Immer wieder erprobte er sie an Tieren. Mit geschlossenen Augen war er in der Lage, Entzündungen, Brüche und Nervenblockaden zu erspüren. Indem er sanft über verletzte Stellen strich, konnte er die Wege und Bahnen von Adern, Sehnen und Muskeln verfolgen und erkennen, wo sie sich nicht mehr an ihrem angestammten Platz befanden. Es gelang ihm mit der Zeit, Wirbel und Gelenke wieder einzurenken und Sehnen in die richtige Stellung zu bringen.
Später, beim Studium, war ihm sein Können eher hinderlich gewesen. Etwa wenn er Knochensplitter erspürte, die niemand sonst sehen konnte, oder ausgerenkte Gliedmaßen mit einem
leichten Rucken wieder einrenkte. Derartiges hielt man in der Welt der Mediziner für Scharlatanerie, und so behielt Jeels sein Wissen und Können für sich.
Erst als er zu praktizieren anfing, nutzte er seine besondere Fähigkeit wieder mehr. Je stärker er seine Gabe zuließ, desto besser gelang es ihm, die gebrochenen Knochen und ausgerenkten Glieder seiner Patienten wieder zu richten.
Seit drei
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