Das Geheimnis der Inselrose - Historischer Roman
Musizieren. Niemals wieder würde er Geige spielen, das hatte er sich geschworen und das Instrument ins Feuer geworfen.
Mit zwei Koffern beladen begann er ein neues Leben. Ein Leben, das eigentlich nur eine fortwährende Reise war. Oft überkam ihn das Gefühl, hilflos auf einen Abgrund zuzutreiben. Ziellos fuhr er von Ort zu Ort, blieb manchmal eine kleine Weile, nur um dann wieder die Koffer zu packen. Es gelang ihm nicht mehr, den ehemals geliebten Beruf auszuüben, und manches Mal war er kurz davor gewesen, auch den Arztkoffer zu verbrennen. In dumpfem Vergessen verschlief er den Großteil seiner Tage, denn der Alkohol war für ihn zum einzigen Mittel gegen die Trauer geworden. Nur wenn er betrunken war, konnte er für kurze Zeit der quälenden Schuld entkommen.
An einem kalten Märztag beschloss er schließlich, seinem Leben ein Ende zu bereiten. Da er nicht schwimmen konnte, würde er ins Wasser gehen. Das Angebot einer Schiffsreise von Bremen zu den Inseln kam ihm gerade recht. Thomas trat die Überfahrt im Dunkeln und bei Nebel an. Er war überzeugt gewesen, unbeobachtet zu sein, doch er hatte die Rechnung ohne Hein Hinrichs, einen Wangerooger Fischer, gemacht.
Der Mann hatte ihn aus dem Wasser gezogen und mit auf seine Heimatinsel genommen. Dort verbrachte Hein seine Tage als Einsiedler in einer abgelegenen Fischerkate. Nachdem Thomas das Bewusstsein wiedererlangt hatte, brachte ihn der Fischer im Haus einer älteren Witwe unter.
Die Tage auf dem Eiland verschwanden in Thomas’ Kopf wie unter einem Nebelschleier. Nur das Meer sah er auch heute noch in aller Deutlichkeit vor sich, das Wasser und den Strand, an dem er trotz Kälte und Regen Stunde um Stunde entlanggewandert war.
Was hatte ihn bewogen, die Insel nicht gleich wieder zu verlassen? Thomas wusste es bis heute nicht zu sagen. Damals hatte ihn ein unbestimmtes Gefühl beschlichen, als habe das Schicksal für ihn noch eine Aufgabe auf diesem Eiland vorgesehen. Und so hatte er gewartet, ohne zu wissen worauf.
Die Vermieterin war sehr gastfreundlich und überging stets geflissentlich, dass er am Abend nach Rum roch. Thomas hatte ihr Wohlwollen gewonnen, indem er in einem nüchternen Moment ihren gebrochenen Arm gekonnt geschient hatte. Daher wusste sie auch, dass er Arzt war.
Und dann kam der Tag, der sein Leben verändern sollte. An jenem Abend war ein Sturm aufgekommen. Der Anblick der aufgepeitschten See hatte Thomas lange Zeit am Strand festgehalten. Es war ihm, als sprächen seine eigene Wut und Trauer aus den Naturgewalten, und wie so oft hatte sich Thomas gefragt, was er nun mit seinem Leben anfangen sollte. Doch kaum dass er den Fuß in sein Quartier gesetzt hatte, schenkte das Schicksal ihm endlich eine Antwort. Die Hebamme der Insel kam, um ihn zu holen, und gab ihm nach langer Zeit wieder die Möglichkeit, ein Leben zu retten. Dieses neu geweckte Bewusstsein, dass er über die Fähigkeit verfügte, den Tod abzuwenden, Leben zu erhalten, entriss ihn der düsteren Umklammerung von Schuld und Todessehnsucht.
Plötzlich war da dieses winzige Geschöpf, das so leicht den Weg in seine Arme und in sein Herz gefunden hatte. Die Mutter des Säuglings, Reemke van Voss, starb, doch diesmal konnte er sich nichts vorwerfen. Es hatte nicht in seiner Hand gelegen.
»Reemke.« Lautlos formten seine Lippen den Namen. Immer wieder begegnete er dieser Frau in seinen Träumen. Und so wie er gewusst hatte, dass sein Leben mit dem Kind einen neuen Anfang nehmen würde, so wusste er auch, dass ihn mit dieser Frau etwas ganz Besonderes verband. Es war ihm, als habe sie mit ihrem Tod seine Schuld bezahlt, damit er frei sein konnte. Und sie löste nicht nur die Fesseln der Schuld, sie gab ihm auch einen Grund zum Leben: Jeels. Er nannte den kleinen Jungen nach der Großmutter, Jeelke van Voss, deren Grabstein auf dem kleinen Friedhof der Insel zu finden war. Dort, wo auch Reemkes Körper zur letzten Ruhe gebettet wurde.
Nach der Beerdigung hatte Thomas für sich das Recht erwirkt, Jeels an Kindes statt anzunehmen. Niemand hatte sich ihm entgegengestellt. Im Gegenteil: Die alte Hebamme beschwor, dass es Reemkes letzter Wille gewesen sei, und Thomas hatte ihr dankbar die Hand gereicht. Dennoch verließ er die Insel fluchtartig, und setzte niemals wieder einen Fuß auf das Eiland.
Er fing ein neues Leben an, kaufte ein Haus an der Weser, tat einen Glücksgriff mit Hilde und schwor dem Alkohol ab. In einer schwermütigen Stunde hatte er Hilde die ganze
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