Das Geheimnis der Inselrose - Historischer Roman
Geschichte erzählt. Sie verurteilte ihn nicht, sondern hing seitdem nur umso mehr an ihm und dem Jungen.
In Bremen kannte niemand den neuen Arzt, doch bald schon erwarb er sich einen guten Ruf. Den kleinen Jungen gab er als seinen Neffen aus, als Kind seiner Schwester Elise, die verstorben war. Diese Erklärung schien ihm die einfachste. Auch Jeels kannte die Wahrheit nicht. Nie verließ Thomas die
Angst, er könnte den Jungen verlieren. Sie lauerte bis heute in seinem Inneren. Selbst als Jeels erwachsen war, vermochte er das Geheimnis nicht zu lüften. Was, wenn sein Sohn nach Wangerooge fuhr und dort Menschen fand, zu denen er gehörte? Zu denen er mehr gehörte als zu ihm?
So hatte er es immer wieder hinausgeschoben, die Wahrheit ans Licht zu bringen. Und jetzt war es fast zu spät. Doch diese Selbstsüchtigkeit musste ein Ende haben! Er würde Jeels heute Abend alles sagen.
Thomas seufzte. Er fühlte sich so unendlich müde. Panik ergriff ihn. Die Krankheit war so tückisch! Was, wenn es jetzt zu Ende ginge? Wenn es zu spät wäre zum Reden?
Thomas zwang seine Gedanken zur Ruhe. Entschlossen griff er nach dem Tintenfass und einem Bogen Papier. Vielleicht wäre es eine Erleichterung, die Erinnerungen aufzuschreiben. Und ein solches Dokument mochte Jeels einmal mehr dienen als ein gesprochenes Wort.
Lange dauerte es, all das Geschehene zu Papier zu bringen. Als er es schließlich geschafft hatte, schob Thomas Hanken erleichtert den Bogen von sich. Dann zog er eine Schublade des Sekretärs auf und holte mit zittrigen Fingern einen Bund hervor, an dem drei große Schlüssel hingen. Er selbst hatte das Haus, zu dem die Schlüssel passten, nur ein einziges Mal betreten und mit dem größten Geschenk seines Lebens wieder verlassen. Einmal im Jahr wanderte dieser Schlüsselbund in die Hände eines Verwalters, der im Haus nach dem Rechten sah. Dem Haus, das Jeels’ Erbe war. Würde er die Schlüssel benutzen? Würde er auf die Nordseeinsel, den Ort seiner Geburt, zurückkehren, um seine wahren Wurzeln zu erforschen?
Bevor er es sich noch einmal anders überlegen konnte, nahm Thomas Hanken entschlossen einen Umschlag zur Hand und ließ den Bogen, die Schlüssel sowie einige Papiere hineingleiten. Wenn ihm die Stimme heute Abend nicht gehorchen
wollte, dann brauchte er nur nach diesem Umschlag greifen.
Thomas stand schwerfällig auf und trat ans Fenster. Die Sonne lockte ihn. Er nahm den Mantel und seinen Hut. Sein Ziel war die Bank vor dem Haus.
Als Hilde ihm einen Kaffee nach draußen brachte, klopfte er auf den freien Platz neben sich: »Gönn dir doch ruhig auch mal eine Pause.«
Hilde schüttelte den Kopf. »Lassen Sie mal gut sein. Ich habe gerade den Braten im Ofen. Wenn der Junge zurückkommt, bringt er bestimmt einen guten Appetit mit.«
Sie wandte sich zum Gehen, doch der erstickte Aufschrei des Arztes ließ sie wieder herumfahren.
Thomas Hanken war von der Bank gerutscht und lag ausgestreckt auf dem Bauch im Gras. Der speckige Hut war ihm vom Kopf geflogen.
Hilde eilte auf ihn zu und kniete an seiner Seite nieder. Der Schreck fuhr ihr durch die Glieder, als sie auf den ersten Blick kein Lebenszeichen feststellen konnte. Doch dann drang durch das Zirpen der Grillen und das Singen der Amsel der flache, schnelle Atem des Arztes an ihr Ohr. Hilde presste die Finger auf seinen Puls. Er war schwach, aber regelmäßig. Vorsichtig drehte sie den Arzt auf die Seite. Was für ein Unglück, dass der Junge nicht im Haus war!
Thomas Hanken riss die Augen auf. Er stöhnte leise und versuchte den Kopf zu heben.
»Bleiben Sie ganz still liegen«, befahl Hilde atemlos. Der Arzt gehorchte, und nach einer Weile wurde sein Atem kräftiger und das Gesicht gewann ein wenig Farbe zurück. Schließlich holte er tief Luft und richtete sich keuchend auf. Graue Haarsträhnen hingen ihm wirr ins Gesicht. Hilde fasste ihn entschlossen unter, und der Arzt stützte sich schwer auf sie. Langsam ließ er sich auf der Bank nieder.
»Es geht schon wieder.« Er lächelte zittrig.
»Was ist nur mit Ihnen los?« Hildes Stimme klang verzweifelt. »Ich mache mir schon seit Wochen solche Sorgen!«
Dr. Hanken atmete immer noch schwer. »Mir geht es nicht so gut in letzter Zeit«, sagte er leise und wich ihrem Blick aus.
»Das habe ich gemerkt. Weiß Jeels davon?«
»Noch nicht. Ich werde heute Abend mit ihm sprechen.«
Hilde musterte ihn misstrauisch. »Da waren in letzter Zeit Medikamente auf Ihrem Nachttisch. Lateinische Namen
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