Das Geheimnis der Inselrose - Historischer Roman
was sonst werden soll. So viele haben in der letzten Nacht ihre Bleibe und das Vieh verloren. Und an einen Badebetrieb ist wohl im nächsten Jahr auch nicht zu denken. Wovon sollen wir nur leben?« Die Worte des Vogts klangen bitter.
Er sprach aus, was alle dachten. Mit verzweifelten Gesichtern blickten die Männer über den Strand. Er war durch die Sturmflut etliche Fuß niedriger geworden. Überreste von Viehtränken und Brunnenteile lugten aus dem Sand.
»Da hat das Wasser sich ordentlich ins Zeug gelegt, damit wir was zum Gucken haben.« Krischan bückte sich und hob eine Tonscherbe auf.
»Das müssen Überreste einer alten Besiedlung sein.« Der Pastor wies mit dem Finger auf die Kleischichten, die zu Tage getreten waren. »Vielleicht sind hier früher Weiden gewesen.« Er schritt weiter. »Seht nur, hier ist ein Sandstein freigespült.«
»Den Menschen damals ist es wohl nicht besser ergangen als uns«, seufzte der Bäcker. Er breitete die Arme aus. »Ihr könnt sagen, was ihr wollt, aber hier gibt es keine Bleibe mehr für uns. Wir müssen entweder auf das Festland übersiedeln oder auf der Ostseite, wo die Dünen höher sind, ein neues Dorf aufbauen. So sehe ich das jedenfalls.«
Jeels war tief in Gedanken versunken hinter den anderen zurückgeblieben. Seine Hand hielt das Medaillon umschlossen, das er Wiltert abgerungen hatte. Mit den Augen nahm er die Verheerungen durch die Sturmflut wahr, die schaurige Wüstenei. Doch in seinem Inneren sah er andere Bilder. Seine Finger berührten fast zärtlich die glatte Fläche des Schmuckstückes. Es barg das Herz seiner Großmutter, ihre Liebe. Jeelkes Schicksal ging ihm durch den Sinn. Es hatte zu allen Zeiten Leid auf der Insel gegeben, nicht nur vom Meer verursacht. Weder seine Großmutter noch seine Mutter waren davon verschont geblieben. Deutlich sah er jetzt Reemkes Gesicht vor sich, das rote Haar, die glücklichen Augen. Die Inselrose hatte sich durch nichts und niemanden von Wangerooge vertreiben lassen.
Jeels atmete tief durch und schloss zu den anderen auf. Seine Stiefel versanken im Morast, und es roch nach Moder.
»Für die Übersiedlung aufs Festland wird der Landesherr
vielleicht noch seinen Geldsack zücken, aber glaubt mir, wer hierbleiben will, der muss sich selbst helfen«, hörte er den Vogt gerade sagen. »Die Oldenburger sitzen auf dem Geld wie eine Glucke auf ihren Eiern. Ob ein paar Insulaner umkommen, ist ihnen egal!«
»Die rücken ihre Reichstaler nur raus, um uns von dannen zu kriegen. Wir sollen einen Vorschuss haben, um nach dem Festland überzusiedeln. Aber ich tu’s nicht!«, sagte Dodo bestimmt.
»Ich bleibe auch auf Wangerooge. Keine zehn Pferde kriegen mich hier weg«, schloss Krischan sich ihm an.
»Meine Oma wird sich auch nicht vertreiben lassen!« Onno bückte sich, zog einen sich windenden Aal aus dem Schlamm und schwang ihn wie ein Lasso. »An ihr würde sich selbst der olle Großherzog die Zähne ausbeißen«, rief er.
Der Vogt nickte ihnen anerkennend zu. »Das macht mir Mut! Der harte Kern bleibt also, mich eingeschlossen. Da wird einiges an Arbeit auf uns zukommen. Aber das Meer nimmt und gibt. Gestern haben wir ihm einen ordentlichen Tribut zahlen müssen. Dafür ist es uns etwas schuldig. Und darauf will ich vertrauen und auf bessere Zeiten hoffen.«
Jeels war neben ihn getreten und hob einen zerbrochenen Krug auf, der zu seinen Füßen lag. Er streckte das Gefäß wie zum Gruß der Sonne entgegen, die gerade durch die Wolken brach. Sie tauchte das Meer in einen goldenen Schein.
»Zu allen Zeiten haben Sturmfluten diese Insel bedroht«, sagte er nachdenklich. »Unglück ist über die Menschen gekommen, damals wie heute. Dieser Krug erzählt davon. Und doch haben die Wangerooger immer wieder einen neuen Anfang gewagt. Wollen wir etwa weniger mutig sein als sie?«
»Nein!« Die Männer umringten ihn.
Der Vogt klopfte Jeels auf die Schulter. »Recht hast du. Wir wollen neu beginnen!«
Die Luft, die vom Meer herwehte, schmeckte nach Salz und Fisch. Über ihnen zogen Möwen ihre Kreise und schrien voller Freiheit und Lebensmut gegen den Wind an.
»Jau!«, rief Krischan und schwenkte seinen Hut. »So soll es sein.«
Lächelnd betrachtete Jeels die Insulaner. Gemeinsam würden sie es schaffen!
Epilog
Wangerooge, August 1863
J eels formte aus Muscheln einen lachenden Mund für die Meerjungfrau aus Sand. Er trat zurück, um die Wirkung Meerjungfrau aus Sand. Er trat zurück, um die Wirkung zu begutachten.
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