Das Geheimnis der Inselrose - Historischer Roman
deren glatte Köpfe aus dem Wasser lugten. Hoch über ihnen zogen Möwen am makellos blauen Himmel ihre Kreise. Einige Vögel schwammen, wie kleine Spielzeugboote, auf dem Wasser. Jeels schloss die Augen und sog die Luft tief ein. Er konnte das Salz auf seiner Zunge schmecken.
Und dann, endlich, kam Wangerooge in Sicht! Jeels beugte sich aufgeregt ein Stück über die Reling vor. Die Insel schien im Wasser zu schwimmen. Aus der Entfernung hätte man das Eiland für ein Gebirge halten können, wäre der schöne, schlanke Leuchtturm nicht gewesen.
Die Passagiere um ihn herum begannen geschäftig hin und her zu eilen. Sie ließen von den Dienstboten das Gepäck an Deck tragen und besprachen ihre weiteren Pläne. Die meisten kamen zur Erholung auf die Insel. Der Name einer gewissen Hofrätin Bartling fiel mehrfach. Offenbar wachte diese Dame über alle Einrichtungen der Badeanstalt.
»Wie ein Schießhund«, äußerte sich einer der Männer nicht unbeeindruckt.
Die Hofrätin schien alles in ihren Kräften Stehende zu tun, um ihre Gäste zufriedenzustellen. Viele kamen schon zum wiederholten Male nach Wangerooge. Die zweitwichtigste Rolle spielte scheinbar der Badearzt Dr. Hoffmann. Wie es um seine ärztlichen Fähigkeiten stand, bekam Jeels nicht heraus, nur das er ein äußerst korrekter und auf Etikette bedachter Mann sei.
Bevor sie auf Reede ankerten, unterhielt ein älterer Herr mit Backenbart und selbstgefälligem Gesichtsausdruck die jüngeren Fahrgäste lautstark mit Anekdoten über die Beschwerlichkeit früherer Reisen. »Sie hätten es erleben sollen!« Er strich sich über den Bart. »Ich preise den Fortschritt, der die Fahrt zur Insel mittlerweile zum Vergnügen macht. Wissen Sie, meine Damen«, er wippte auf und ab, »noch vor einigen
Jahren bin ich manchmal bei Ebbezeit zu Fuß über das Watt hierhergekommen. Dieser Weg war unsicher und gefährlich, aber nicht mehr als die Seereise damals. Sie dauerte Ewigkeiten. War man endlich vor Wangerooge angekommen, ließ der Kapitän in nächster Nähe den Anker werfen und hisste eine Flagge. Das diente als Signal für die Insulaner, uns mit eigens dafür gefertigten Pferdekutschen abzuholen. Diese Wagen hatten riesenhafte Räder, damit wir hoch genug saßen und nicht nass wurden. Wer eine solche Fahrt nicht bezahlen konnte, der musste im Schiff auf Ebbe warten und zu Fuß an Land gehen.«
Die Damen stießen überraschte Laute aus, aber für Jeels war diese Beschreibung nichts Neues. Er hatte Bücher über Wangerooge gelesen, in denen auch stand, dass sich jeder Gast beim Inselvogt zu melden hatte.
Die Passagiere ließen sich von den Insulanern mittels kleiner Boote übersetzen. Während sie mit Willkommensrufen, Winken und Musik empfangen wurden und nach und nach in Kutschen verschwanden, die sie zu ihren Quartieren brachten, gab es niemanden, der Jeels erwartete. Nebst Hund und Gepäck stand er eine lange Weile wie verloren am Wasser. Außer einigen Schiffen, die wohl den Insulanern gehörten, war nichts zu sehen.
Benno sah mit traurigen Augen zu Jeels auf. Er schien schon jetzt das Bremer Herrenhaus und vor allen Dingen Hilde zu vermissen. Die Suche nach dem Verstorbenen hatte er irgendwann aufgegeben. Es war, als hätte das Tier eingesehen, dass es vergebliche Mühe war. Manchmal hatte ihn Jeels unter der Bank am Haus entdeckt, mit geschlossenen Augen, den Kopf auf den Pfoten, lag er dann da, als ob er in Erinnerungen schwelgte.
Der Raddampfer zog Jeels’ Aufmerksamkeit auf sich. Er vertrieb sich die Zeit damit, die pechschwarzen Rauchwolken auf
ihrem Weg in den blauen Himmel zu verfolgen. Die riesigen Schaufeln des Rades wühlten das grüngraue Wasser auf, und der Geruch von Fisch und Meerespflanzen wehte zu ihm herüber. Dann, als wolle der Dampfer sich von ihm verabschieden, ertönte ein schriller Pfiff.
Seufzend wandte sich Jeels um. Was sollte er jetzt als Erstes tun? Die meisten anderen Reisenden waren längst verschwunden. Viele waren mit Kutschen abgeholt und sicherlich direkt zum Logierhaus gebracht worden. Jeels beobachtete amüsiert einige wohl schon länger hier weilende Badegäste, die die Ankunft des Dampfers beobachtet hatten. Manche waren allein, aber die meisten gingen Arm in Arm umher. Viele hatten sich auffällig herausgeputzt. Während die Herren schwarze Zylinder trugen, schützten sich die Damen durch Hüte mit Federn oder Blumen vor der Nachmittagssonne. Einige hatten weiße Schirmchen aufgespannt. Wie Paradiesvögel wirkten die
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