Das Geheimnis der Inselrose - Historischer Roman
nicht mehr als ein Flüstern an seinem Ohr. »Und nun bist du endlich da!«
Thomas fühlte sich plötzlich ganz leicht und schwerelos, wie die Wolken am Himmel. Nichts gab es mehr, was ihn band und auf Erden hielt. Er griff nach Reemkes Hand. Die Frühlingsblume mit der roten Blüte entglitt seinen Fingern, so wie er der Welt.
5
V iele Trauernde waren zum Begräbnis gekommen, Freunde, Patienten und Nachbarn. Jeels blickte wie betäubt auf das schreckliche dunkle Loch vor sich, das auf dem Friedhof gegraben worden war. Der Wind, der vom grauen Himmel herabstob, zerrte mit kalten Fingern an seinem dunklen Mantel.
Von der Ansprache des Geistlichen war nichts zu Jeels durchgedrungen. Jetzt traten vier starke Männer vor und packten die dicken Seile, um den Sarg mit den Messinggriffen langsam in die Erde zu senken. Jeels glaubte, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Es war sein Vater, der hier beerdigt wurde! Am liebsten wäre er ihm gefolgt. Doch dann berührte Hilde seine Hand, sanft und liebevoll. Er tat einen tiefen Atemzug, und das Schwindelgefühl verflog.
»… von Staub bist du genommen und zu Staub kehrst du zurück«, klangen die Worte des Geistlichen zu ihm herüber.
Widerwillen regte sich in Jeels. Sein Vater war kein Staub, feinfühlig und warm war er gewesen, nicht kalt wie die Worte, mit denen er verabschiedet wurde. Es schnürte ihm die Kehle zu, doch er konnte nicht weinen. So tief der Schmerz, so hart der Verlust auch sein mochte, es wollten keine Tränen kommen. Dabei hatte es in all den Jahren seines Lebens nichts gegeben, was diesem Gefühl der Verlassenheit gleichgekommen wäre.
Hilde zupfte am Ärmel seines Mantels, und ihm wurde bewusst, dass der Prediger ihm etwas entgegenhielt. Jeels streckte
die Hand aus und der Geistliche ließ Erde hineinrieseln. Jeels trat an das offene Grab. Die Erde fiel leise prasselnd auf die Holzkiste.
Jeels wandte sich um, ohne die Beileidsbekundungen der Trauernden abzuwarten, und ging mit raschen Schritten auf die Kutsche zu. Mit zittrigen Knien stieg er ein und saß starr vor Kummer da. Nach einer Ewigkeit kam Hilde und setzte sich schwer atmend zu ihm in das Gefährt.
»Entschuldige bitte, aber ich konnte einfach nicht bleiben.« Jeels schloss für einen Augenblick die Augen.
»Schon gut, mein Junge.« Sie tätschelte seine Hand. »Lass uns nach Hause fahren. Es war ein schwerer Tag für dich.«
»Für uns alle.« Jeels umarmte sie und dachte an den armen Benno, der immer noch den Garten nach seinem Herrn absuchte.
Zwei Wochen nach der Beerdigung saß Jeels auf der Bank vor dem Haus, dem Lieblingsplatz seines Vaters. Er umklammerte die Lehne mit der gleichen Verzweiflung, mit der er sich an die Trauer um den Vater geklammert hatte. Dessen Tod hatte ihn angesprungen wie ein tollwütiger Hund. Er hatte Jeels keine Zeit gelassen, sich darauf vorzubereiten oder die Worte zu sagen, die hätten gesagt werden sollen. Und jetzt würde sein Vater nie mehr zurückkehren. Er konnte es immer noch nicht fassen. Das Haus schien ihm zu groß, zu leer, zu still. In jedem Zimmer fand sich eine Erinnerung daran, wie es gewesen war. Vater war fort und der Verlust zu frisch, als dass Jeels schon wieder hätte arbeiten können. Ein Freund des alten Dr. Hanken war eingesprungen und würde die Praxis für eine Weile übernehmen.
Jeels nahm das Blatt Papier zur Hand, das neben ihm auf der Bank lag - der Brief seines Vaters an ihn, den er wieder und wieder las. Noch am Tag der Beerdigung hatte Hilde ihm den
Umschlag übergeben, und begierig hatte er danach gegriffen. Die Zeilen des Vaters trösteten Jeels ein wenig über das verpasste Gespräch hinweg. Der Brief endete mit den Worten: »Bitte verzeih mir und versuche mich zu verstehen.«
Und, bei Gott, das tat er. Warum nur hatte sich der Vater so sehr davor gefürchtet, ihm die Wahrheit zu sagen? Er musste doch gewusst haben, dass all das, was hier geschrieben stand, nichts an seinen Gefühlen für ihn änderte. Thomas Hanken würde für immer sein geliebter Vater bleiben, auch wenn die Zeilen eine Seite von ihm zum Vorschein brachten, die Jeels nicht gekannt hatte.
Mit leerem Blick starrte er in die Ferne. Er war also nicht der Sohn von Thomas’ Schwester, es gab keine familiäre Bindung zwischen ihnen. Es schien so seltsam, so fremd, dies als die Wahrheit anzuerkennen. Es hatte ihm immer ein Gefühl der Zugehörigkeit vermittelt, dass er, wenn schon nicht der leibliche Sohn, so doch ein Verwandter war. Aber es
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