Das Geheimnis der Inselrose - Historischer Roman
gab keine Blutsbande. Dies hatte eine ganz neue Frage aufgeworfen: Wer war er?
Ein Kind der Insel. Ein Kind, das niemand hatte haben wollen, das las Jeels zwischen den Zeilen. Thomas Hanken hatte sich seiner erbarmt. Das Einzige, was der Arzt ihm von seiner Herkunft verraten konnte, war der Name seiner Mutter: Reemke van Voss.
Jeels hatte an den Abenden lange Gespräche mit Hilde geführt. Sie war mit ihm in seine Kindheit zurückgekehrt und hatte auch einiges von dem wiedergegeben, was sein Vater ihr erzählt hatte. Doch nicht auf alle Fragen hatte Jeels Antworten gefunden.
Warum hatte es auf der Insel niemanden gegeben, dem etwas an ihm lag? War seine Mutter auf der Welt denn ganz alleine gewesen? Wer war sein Vater? Warum war er hier, an der Weser, aufgewachsen und nicht auf Wangerooge? Ein Geheimnis
schien über seiner Herkunft zu schweben. Ein Geheimnis, das er um alles in der Welt lüften musste. Vielleicht gab es auf diesem Eiland noch Menschen, die mit ihm verwandt waren. Vielleicht sogar jemanden, der ebenfalls seine besonderen Fähigkeiten besaß. Dann müsste er sich nicht mehr so merkwürdig einzigartig vorkommen. Es gab nur einen Weg, all das herauszufinden. Er musste nach Wangerooge fahren.
Jeels lockerte den Griff um die Holzlehne und wandte das Gesicht der Sonne zu. Warme Strahlen drangen durch das Grün des Apfelbaumes. Er spürte, wie die Kälte in seinem Inneren langsam verdrängt wurde. Zum ersten Mal seit dem Tod des Vaters konnte er wieder einen klaren Gedanken fassen. Es lag eine Aufgabe vor ihm.
»Ich dachte mir schon, dass ich dich hier finde«, drang eine Frauenstimme an sein Ohr. Hilde war vom Markt zurückgekehrt. Sie schloss die Gartenpforte hinter sich und betrachtete Jeels voller Zuneigung. Die Trauer um den alten Arzt hatte die Falten in ihrem Gesicht noch tiefer werden lassen und ihren Nacken gebeugt.
Jeels lächelte sie an. »Hilde, es wird dir vielleicht nicht gefallen, aber ich habe gerade beschlossen, nach Wangerooge zu fahren. Ich muss es einfach tun, um etwas über meine Vergangenheit herauszufinden. Und dann ist da das Haus auf der Insel, das ich mir unbedingt ansehen möchte.«
Hilde atmete scharf ein und schüttelte bekümmert den Kopf. »Das hätte deinem Vater nicht gefallen. Siehst du, dies war der Grund, warum er sich nicht getraut hat, dir die Wahrheit zu sagen.«
»Er hatte nur Angst, dass ich ihn aus meinem Leben ausschließen könnte. Was ich nie getan hätte. Aber jetzt ist Vater tot, und ich muss mein Leben in die eigene Hand nehmen.«
»Richtig«, bestätigte Hilde. »Und dein Leben findet hier statt. Die Patienten warten auf dich. Auf dem Markt haben sie
mich schon gefragt, wann du endlich wieder in der Praxis sein würdest. Ich weiß, dass diese verdammte Insel deinem Vater nichts als Alpträume bereitet hat. Mein Junge, Wangerooge ist einfach nur der Ort, an dem du geboren wurdest, mehr nicht! Ich sag es nicht gerne, aber die Menschen dort wollten dich nicht. Das musst du dir vor Augen führen. Sie waren froh, als dein Vater dich mit fortnahm, verstehst du?«
Jeels war bei ihren letzten Worten zusammengezuckt. »Aber das ist es ja gerade. Diese Frage quält mich am meisten. Warum wollte mich niemand? Wenn ich schon keine Verwandten dort habe, dann muss es doch Menschen gegeben haben, die meiner Mutter nahestanden, denen sie etwas wert war.«
Hilde seufzte. »Jeels, dein Vater hat mir von der Nacht erzählt, als du geboren wurdest. Es gab mindestens einen Insulaner, der sich an den Schmerzen deiner Mutter ergötzte. Und die Hebamme bemitleidete dich schon, als du noch keine zwanzig Atemzüge getan hattest. Die Menschen dort sind offenbar ganz anders als wir, Jeels. Zumindest müssen sie es vor fünfundzwanzig Jahren gewesen sein. Von den Erzählungen deines Vaters her stelle ich sie mir primitiv und abergläubisch vor. Vielleicht hängt es mit der See zusammen, die sich immer wieder ihre Opfer unter ihnen sucht.«
»Ach Hilde.« Jeels machte eine wegwerfende Handbewegung. »Das alles ist lange her. Die Abgeschiedenheit, die die Insulaner früher vielleicht menschenscheu und abergläubisch gemacht hat, gibt es nicht mehr. Zumindest in den Sommermonaten weilen zahlreiche Gäste auf der Insel. Noch vor kurzem habe ich gelesen, dass viele Kranke auf den ostfriesischen Inseln Heilung finden durch das Wasser und die salzige Luft.«
»Und trotzdem, mein Junge, bleibe ich dabei. Du solltest lieber hier dein Glück suchen. Was willst du denn auf diesem öden
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