Das Geheimnis der Inselrose - Historischer Roman
letzten das Schiff. Ihre Koffer und sogar Freyas Korbwagen waren längst von Bord gebracht worden.
Wemke atmete tief durch, ließ sich aus dem Boot helfen und nahm mit einem unwirklichen Gefühl ihre kleine Schwester auf den Arm. Sie betrat zaghaft die Insel, wo die Ankömmlinge immer noch begeistert begrüßt wurden. In ihrem ganzen Leben hatte Wemke noch nicht so viele Verbeugungen gesehen und gegenseitige Komplimente gehört. Die Gäste wurden wie Königskinder hofiert und lobten ihrerseits die Hofrätin und
ihr Gefolge über den grünen Klee. Wemke empfand dieses übertriebene Katzbuckeln als unangenehm. Sie wusste nicht, wie dem zu begegnen war. Deshalb hielt sie sich im Hintergrund, senkte den Blick und beobachtete das Treiben unauffällig.
Der korpulentere Mann mit dem Stiernacken spielte den Witzbold. Er zog die Gäste auf und rief: »Was wollen Sie eigentlich alle hier? Uns die Ruhe rauben, Ihr Geld unter das Volk bringen? Oder glauben Sie wirklich, dass ein wenig Salzwasser Ihre sämtlichen Gebrechen lindern wird?«
Die Menge lachte gutmütig über seine Worte. Von anderer Seite aber wurde er getadelt. »Ach, musst du denn immer deine Scherze treiben?« Die Hofrätin wandte sich entschuldigend ihren Gästen zu. »Achten Sie nur ja nicht auf sein Gerede! Das ist die Art meines holden Gatten, Sie alle aufs Herzlichste willkommen zu heißen«, erklärte sie mit ausladender Geste.
»Finchen, Finchen«, spöttelte seinerseits ihr Ehemann. »Du verstehst es, mir das Wort im Munde umzudrehen. Diese meine Gattin, Josefine Bartling«, er nahm sie kurzerhand in den Arm, was die Hofrätin nur widerwillig über sich ergehen ließ, »regiert hier das ganze Inselvolk, die Gäste und mich dazu. Und das, obwohl ich gut fünfzehn Jahre älter bin als sie! Da mag man es mir zugestehen, das ein oder andere Wort des Widerspruchs zu äußern. Die Heilkraft der See vermag ich aber tatsächlich nicht zu beurteilen, da ich sie noch nie in Anspruch genommen habe.«
»Sie leben hier auf der Insel und waren noch nie im Meer?«, kam es ungläubig aus der Menge.
»Wer die meiste Zeit des Tages dem Schlaf widmet und in der übrigen isst oder Karten spielt, dem entgeht das wahre Leben«, kam es spitz von der Hofrätin.
»Hab ich nicht das Alter auf meiner Seite, das solches rechtfertigt, meine Liebe?«, verteidigte sich ihr Gatte. »Sollte ich
morgen sterben, so wird man sagen, er hatte genug an Jahren. Warum dann all die Dinge, die mir das Leben versüßen, aufgeben, nur um unnütze Zeit in kaltem Wasser zu verbringen?«
Die Hofrätin funkelte ihn böse an, doch dann seufzte sie ergeben und machte eine abfällige Handbewegung.
Wemke fühlte Erleichterung in sich aufsteigen, weil der stiernackige Mann sich als Gatte der Hofrätin herausgestellt hatte. Sie drehte sich zum Wasser, um den scharfen Augen der Hofrätin noch für einen Moment zu entgehen, und bemerkte einen Mann mit rotem Haar, der sich etwas abseits hielt. Er beobachtete mit einem belustigten Gesichtsausdruck das Spektakel. Ihm zur Seite stand ein hünenhafter Kerl, der mit dem Finger auf einzelne Personen wies. Ein Schäferhund strich ungeduldig um die Beine der Männer.
In dem Moment trafen sich Wemkes Augen und die des Rothaarigen. Der junge Mann sah ihr voller Neugier ins Gesicht, und auch sie vermochte den Blick nicht abzuwenden. Sie spürte, wie eine leichte Röte sich auf ihre Wangen schlich, obwohl sie nicht hätte sagen können, was sie eigentlich in Verlegenheit gebracht hatte. Dann verzogen sich die Lippen des Fremden zu einem Lächeln, und er nickte ihr zu. Er schien, genau wie sie, dem Trubel nichts abgewinnen zu können. Seine Augen waren grün und funkelten wie das Meer, wenn Sonnenstrahlen auf die Wellen trafen. Noch nie zuvor hatte Wemke solche Augen gesehen. Der Blick des Fremden wärmte sie, und plötzlich wich das Gefühl der Verlorenheit, das seit der Ankunft ihr Herz umklammert gehalten hatte.
Wemke erschrak. Was tat sie hier eigentlich? Es war unschicklich, einen anderen Menschen so lange anzustarren, noch dazu einen fremden Mann. Abrupt senkte Wemke den Blick, und als sie den Kopf wieder hob, vermied sie es, in Richtung des Rothaarigen zu schauen. Sie ließ ihre Augen ganz bewusst zu den vor Anker liegenden Fischerbooten der Insulaner
wandern. Ihre stählernen und hölzernen Rümpfe hoben und senkten sich mit dem Spiegel des Wassers.
Wemke nahm ein Tuch und wischte sich über das Gesicht. Ihre dunkle Haube schien die ungewöhnlich warme
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