Das Geheimnis der Inselrose - Historischer Roman
Küche.
»Zieh dein Hemd aus«, forderte Jeels den Jungen auf.
»Was?«
»Ich will mir deinen Arm anschauen.«
Der Junge gehorchte. Jeels sah die Neugier in den Gesichtern der Umstehenden, doch er zwang sich, sie nicht zu beachten. Stattdessen richtete er seine Aufmerksamkeit auf den Arm des Kindes, der seltsam verdreht war.
»Setz dich dort auf den Stuhl.«
Unter den Umstehenden kam Getuschel auf, doch Jeels ignorierte es. Er konzentrierte sich nun ganz auf das Gespür in seinen Fingerspitzen, die er in das Speiseöl tauchte. Vorsichtig und mit geschlossenen Augen fuhr er ganz sanft über den verletzten Arm. Es war ein Gefühl, als ließe er seine Finger durch ein milde fließendes Gewässer gleiten. Für ihn waren die Muskeln, Sehnen, Adern und Knochen wie Wasserpflanzen. Doch diesmal musste er sie nicht entflechten, nicht Sehnen von Steinen
und Astwerk befreien. Es war um ein Vielfaches einfacher. Er spürte sofort die Stelle, wo das Gelenk sich nicht mehr in der richtigen Position befand.
»Was hast du vor?«, wisperte der Junge unruhig.
»Sei unbesorgt, gleich geht es dir besser. Ich hab es schon.« Die letzten Worte murmelte er mehr zu sich selbst. Ein leichtes Rucken, ein sanftes Drücken, und das Gelenk schob sich zurück an seinen Platz.
»Aua«, schrie der Junge erschrocken. Dann bewegte er vorsichtig seinen Arm und sprang verblüfft auf.
»Krischan, dein Freund ist ein Zauberer! Es tut gar nicht mehr weh!«, rief er aus und warf die Arme in die Luft. Dann machte er eine winzige Verbeugung vor Jeels. »Vielen Dank! Vor dir würde sogar meine Oma einen Knicks machen!«
Jeels hob fragend eine Augenbraue, doch die Umstehenden lachten. Die Worte des Jungen schienen ein Kompliment zu sein. Jeels, der bislang mit dem Rücken zu den Männern gestanden hatte, drehte sich verlegen um.
»Es ist natürlich keine Zauberei. Manchmal kann ich mit meinen Händen erspüren, ob etwas verstaucht ist oder gebrochen. Es ist keine große Sache«, spielte er sein Können herunter.
Die Männer machten ungläubige Gesichter. Die meisten schienen dem Wirtssohn den Fußtritt gegönnt zu haben und Onno zu mögen. Doch was von dem Fremden zu halten war, wussten sie offenbar noch nicht so ganz. Da riss einer von ihnen, ein alter Seebär mit grauem Bart und Pfeife, plötzlich die Augen auf.
»Das ist doch nicht möglich!«, stieß er hervor und stützte sich schwer auf den Tisch. »Ein van Voss ist auf die Insel zurückgekehrt.«
Jeels zuckte zusammen, doch dann nickte er. »Das stimmt. Ich bin Jeels van Voss.« Er streckte dem Alten seine Hand entgegen,
die dieser nur zögernd ergriff. Er konnte seine Augen kaum von Jeels’ Gesicht und vor allen Dingen seinem Haar lösen.
»Ein van Voss«, murmelte er vor sich hin. »Mit rotem Haar und Zauberhänden.«
Geraune setzte ein. Die Stimmung schlug plötzlich um. Sie war jetzt getränkt von Misstrauen und Unbehagen. Jeels wollte sich schon zur Tür wenden, als der Zimmermann Hinrich Luts die Stimme erhob.
»Also, wenn ich mal ein Gebrechen habe, dann komme ich gerne zu Jeels van Voss«, sagte er mit fester Stimme.
Jeels nickte ihm erleichtert zu. »Und ich werde dir gerne helfen!«, erwiderte er mit fester Stimme.
Das schien den Zimmermann zu ermutigen. Er musterte den Gastwirt aus den Augenwinkeln und lächelte.
»Wer hat denn nun eigentlich das Geld genommen?«, fragte er und lenkte so die Aufmerksamkeit von Jeels weg.
Die Wirtin schien genug von der ganzen Angelegenheit zu haben. Sie stemmte die Arme in die Seiten und sagte in resolutem Ton: »Wir wollen mal das Beste annehmen und davon ausgehen, dass Onno es nicht war.« Ihr Gesicht war betont gleichgültig, aber in ihren Augen spiegelte sich etwas, das wie Furcht wirkte. »Außerdem wissen wir gar nicht genau, ob überhaupt Geld gestohlen wurde. Ich hab den Wiltert gebeten, mir ein wenig Hartgeld zu bringen. Der Onno hat dann vielleicht gesehen, wie er es aus der Kasse nahm. Da sich Onno bislang außer Streichen nichts hat zuschulden kommen lassen, will ich ihn nicht anklagen. Das könnte ich der alten Tedamöh auch kaum antun, wo sie doch Sorgen genug hat.« Sie sah den Jungen fest an. »Onno, du gehst jetzt schleunigst nach Hause. Und ich will dich hier in nächster Zeit nicht sehen, hast du verstanden?«
Das brauchte sie dem Kind nicht zweimal zu sagen. Er sprang im Nu zur Tür, wo er sich noch einmal umdrehte.
»Und Wiltert hat das Geld doch gestohlen«, rief er. »Es stand ihm ins Gesicht
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