Das Geheimnis der Jadefigur (German Edition)
Gesicht mit den hohen Wangenknochen ab.
»Wie hübsch du bist!«, rief Nina aus.
Tam war eine Sekunde lang überrascht, dann zuckte sie mit den Schultern und machte Nina ein Zeichen, ihr zu folgen.
Vor dem Ausgang des Landguts Teng standen drei Rikschas, die auf Kunden warteten. Ihre Läufer waren auf der Sitzbank eingeschlafen.
»Wieso stehen die alle vor diesem Haus?«, fragte Nina, als sie nach Tam in die erste Rikscha stieg. »Sie werden nicht viele Anfragen haben.«
»Auf dem Gut Teng sind mindestens dreißig Angestellte beschäftigt.«
»Und die Familie?«
»Sie ist sehr groß: die schon ziemlich alten Großeltern, die Eltern und viele Kinder. Aber sie benutzen niemals die Rikschas auf der Straße, sie haben ihre eigenen Rikschas und mehrere Einspänner. Sie haben auch eine Dschunke mit Matrosen, um auf dem Fluss spazieren zu fahren.«
»Dann sind sie also sehr reich?«
»Ja, sehr reich. Die Tengs sind Chinesen, die zwischen China und Annam Handel treiben. Seit Frankreich die drei Regionen Indochinas erobert hat, gibt es viele Chinesen in Indochina.«
»Annam, Cochinchina und Tonkin«, zählte Nina auf und war beruhigt, wenigstens das auf dem Ozeandampfer gelernt zu haben.
»Der Handel zwischen den Chinesen und den Franzosen ist sehr lebendig«, schloss Tam.
Sie schwiegen, während die Rikscha die Straßen entlangfuhr. Als sie an einer von blauem Weihrauch eingehüllten Pagode vorbeikamen, kam Nina wieder das Bild des jungen Mannes ins Gedächtnis, der sie an der Tür des Gutes Teng empfangen hatte.
»Wer ist der, der Teng Wenji heißt?«
»Er ist der älteste Enkel des Patriarchen Teng. Hat Ihr Vater Ihnen von ihm erzählt? Sie waren sehr eng miteinander befreundet.«
»Nein, ich habe nie von ihm gehört. Er spricht sehr gut Französisch. Aber er ist ziemlich jung, um der Freund meines Vaters zu sein.«
»Teng Wenji interessiert sich sehr für die Fotografie und die Geschichte unseres Landes. Monsieur d’Armand und Teng Wenji sprachen stundenlang miteinander, über Sehenswürdigkeiten, Bräuche in Indochina und China, über Antiquitäten und Ähnliches. Teng Wenji ist nicht so jung, er ist in Ihrem Alter.«
»Wirklich?«
›Hölle!‹, dachte Nina. Es fiel ihr noch immer schwer, sich daran zu gewöhnen, dass sie einundzwanzig und nicht fünfzehn Jahre alt war. Doch diesmal reagierte Tam nicht mit einem überraschten Blick. Sie schien sich langsam an die unangebrachten Reaktionen dieser jungen Frau, deren Sprache nicht so elegant war wie ihre Kleider, zu gewöhnen.
»Kennst du ihn gut?«, fragte Nina.
»Nein.« Die Antwort war schnell gekommen, und wieder mit dieser Wut in der Stimme, die jedes Mal durchbrach, wenn sich Tam nicht in Acht nahm. Aber scheinbar sah sie sich gezwungen, es zu erklären.
»Wir leben nicht in derselben Welt. Er und seine Schwester gehen auf die Universität. Er studiert Naturwissenschaften und sie Kunst. In Saigon. Wenn sie Ferien haben, kommen sie nach Hué.«
»In Saigon? Ich habe eine Freundin in Saigon«, murmelte Nina und dachte sehnsuchtsvoll an Miss Melly. »Vielleicht wird sie mich besuchen kommen. Du wirst sie mögen: Sie ist Pau-« Sie schluckte und berichtigte sich: »Sie ist Lehrerin.«
»Lehrerin. Sie hat Glück.«
»Willst du später auch Lehrerin werden?«
Tam reagierte nicht sofort. Als sie schließlich doch antwortete, war ihre Stimme nur noch ein Seufzer, fast eine Klage.
»Ich wollte Chemikerin werden wie Marie Curie. Nur ist das unmöglich.«
Nina kannte Marie Curie nicht, aber es kam natürlich nicht infrage, das zuzugeben. Sie antwortete mit einem liebevollen Vorwurf in der Stimme, den die Erwachsenen den Schülern vorbehalten, die den Mut verlieren.
»Sag das nicht. Nichts ist unmöglich. Wir sind im Jahr 1912, die Dinge entwickeln sich, Frankreich wird modern: Man sagt, dass die Frauen bald werden wählen können. Einer Freundin von Maman … von meiner Mutter ist es in Frankreich gelungen, Ärztin zu werden. All das ist nicht mehr unmöglich.«
»In Frankreich vielleicht, aber hier nicht. In Annam lernen die Mädchen normalerweise nicht einmal lesen.«
»Und wenn du nach Saigon gehen würdest, wie die Schwester von Teng Wenji?«
»Die Teng sind reich. Und ich bin nicht nur ein Mädchen, ich bin vor allem arm.«
Tam senkte den Kopf. Ihr Gesicht verschwand unter dem chinesischen Hut. Nina wusste nicht mehr, was sie antworten sollte. Sie hatte sich Gedanken über die Schwierigkeiten der Mädchen gemacht, die studieren wollten. Sie
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