Das Geheimnis der Jadefigur (German Edition)
hatte immer nur ein Ziel gehabt: so wenig wie möglich lernen.
Nina lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Landschaft und überließ Tam ihren düsteren Gedanken.
Der Rikscha-Läufer fuhr sie am Fluss der Düfte entlang, der jetzt breit und ruhig wie ein weiter See in einem sanften Graugrün dalag. Seit dem frühen Nachmittag war es noch heißer geworden, und alles war in eine Art Wasserdampf getaucht. Die Sampans, die kleinen Segelboote, die Nina schon kannte, und große Korb-Boote glitten in beiden Richtungen auf dem Wasser dahin. An der Uferböschung hatten Hunderte von Enten den Kopf in die Federn gesteckt und hielten Mittagsruhe. In der Ferne sah man die neuen Gebäude des französischen Viertels.
»Das sieht aus wie die Häuser in meiner Heimat«, bemerkte Nina, »die Häuser in den Pyrenäen. Schau, weiß und rot, wie bei mir zu Hause.«
»Die Franzosen lassen sich immer Häuser dieser Art bauen. Damit sie das Gefühl haben, ihr Land nicht verlassen zu haben, nehme ich an.«
»Außer meinem Vater!«, wunderte sich Nina.
»Ihr Vater hatte genauso viele Freunde unter den Annamiten wie unter den Franzosen.«
Nina wurde nachdenklich.
»Warum hat deine Mutter ›Tochter wie Vater‹ gesagt?«
Tam hob den Kopf gerade so weit, um Nina unter ihrem Hut anzuschauen. Ein leichtes, spöttisches Lächeln wurde wahrnehmbar, ehe sie wieder ihre Haltung einer gleichgültigen Höflichkeit annahm.
»Ich weiß nicht«, antwortete sie und senkte wieder den Kopf.
»Aber natürlich weißt du es«, sagte Nina mit Nachdruck und ärgerte sich über Tams Anflüge einer gewissen Gefühlskälte.
»Vielleicht wollte sie sagen, dass Sie nicht ganz so wie die anderen Franzosen sind.«
»Ach ja?«
»Nicht wie die anderen jungen französischen Frauen jedenfalls, ja, das sicherlich.«
Da war das spöttische, unüberwindbare Lächeln wieder da. Nina hielt es für gut, nicht weiter nachzufragen. Sie hatte verstanden: Ihre Schnitzer blieben nicht unbemerkt, am besten wäre es, nicht zu insistieren. Sie müsste sich in Zukunft noch wachsamer und reservierter zeigen.
Doch Wachsamkeit und Reserviertheit gehörten nicht zu Ninas Wesenszügen.
»Schau!«, stieß sie plötzlich hervor und zeigte auf eine Ansammlung von kleinen Hütten, die sich vor der Rikscha erstreckten. Sie waren von einer Menge chinesischer Hüte umgeben, die sich so aneinanderdrängten, dass sie einen durchgehenden Teppich aus Strohkegeln bildeten.
»Das ist der Markt. Dort finden Sie alles, was Sie wollen.«
»Wie sollen wir zwischen all diesen Leute vorankommen?«
»Folgen Sie mir.«
»Was ist denn das?«
Nina stand vor einem Berg aus kleinen rosa Kringeln, die auf einem viereckigen Tuch aus Baumwollstoff auf dem Boden aufgestapelt waren.
»Sind das Früchte?«
Nina beugte sich hinunter und wich zurück.
»O nein, dass sind Tiere! Igitt!«
»Getrocknete Krabben«, erklärte Tam und nahm einen der Kringel von der Spitze des Stapels, um ihn zu essen. »In der Suppe schmecken sie köstlich.«
Die Fülle an Nahrungsmitteln und der Menschenandrang ließen einen schwindelig werden. Die junge Annamitin schlängelte sich gewandt durch den Markt. Nina, die größer und durch ihre Frauenkleider eingeschränkt war, hatte Mühe, ihr zu folgen.
Unter den Vordächern wurden große weiße Hefekuchen und dampfende Tees oder Suppen verkauft, die in kleinen blauen Schüsseln serviert wurden. Die Tische der Stände verschwanden unter Pyramiden aus unbekannten Früchten, von denen einige riesig und gelb, andere winzig klein und rot waren.
»Da Mangos, hier Litschis, dort Longanfrüchte und Mangostanfrüchte«, sagte Tam und zeigte auf eine nach der anderen.
In der nächsten Standreihe befanden sich die Handwerker. Sie waren alle halb nackt, ihre Haut war kupfern und von einem feuchten Schweißfilm überzogen: der Korbflechter, der Töpfer, der Verzinner. Eine Ecke war den Friseuren unter freiem Himmel reserviert. Ihre Einrichtung bestand aus einem einfachen Stuhl und ihr einziges Instrument war ein langes Rasiermesser in L-Form.
Eine alte Frau lächelte die beiden Mädchen an, und dabei waren ihre roten und schlechten Zähne zu sehen, wie bei der alten Frau am Hafen.
»Sie muss dringend zum Zahnarzt!«, wunderte sich Nina.
»Sie hat dafür kein Geld«, antwortete Tam eisig. »Und wenn ihre Zähne rot sind, dann deshalb, weil sie Betelpfeffer kaut, das ist eine Sitte bei uns.«
Inzwischen wurde der Fischgeruch immer stärker, langsam sogar unerträglich. Doch
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