Das Geheimnis der Jadefigur (German Edition)
Wir erwarten Sie gegen sechs Uhr am Abend.«
Er drehte sich um und verlor sich in der Menge.
Ninas Blick hing einen Augenblick lang verwirrt an der sich schnell entfernenden Gestalt. ›Er hat schon etwas‹, sagte sie zu sich, ›aber auch etwas Geheimnisvolles.‹
Was hier gerade passierte, war vollkommen unerwartet. Sie hatte Miss Mellys Kleider und Spitzen angezogen und keinen Moment lang darüber nachgedacht, dass ein junger Mann sich für sie interessieren könnte – beziehungsweise für die junge Frau von einundzwanzig Jahren, die sie zu sein vorgab. Und was für ein junger Mann! Musste sie sich Sorgen machen?
Sie dachte an den Abend, der sie im Landhaus Teng erwartete. Sie würde gezwungen sein, einen ganzen Abend lang gegenüber diesem Teng Wenji mit seinen vor Intelligenz funkelnden Augen die Rolle des jungen Fräuleins zu spielen. Würde sie dazu in der Lage sein?
Professor Morton
Die Sonne stand tief am Horizont, als Tam und Nina wieder die Rikscha nahmen. Die Luft war von Jasminduft erfüllt und die Blüten der Klettertrompete entzündeten sich im Abendlicht.
Als sie vor der Pagode angekommen waren, rief Tam dem Läufer etwas zu und sprang mit einem leichten Satz ab.
»Ich steige hier aus.«
»Und deine Hausaufgaben?«
»Ich werde sie später machen. Ich muss zu Buddha beten.«
»Buddha? Dieses Männchen mit der Wampe?«
Tam schaute wütender denn je in die blauen Augen der jungen Französin.
»Die ›Wampe‹, wie Sie sagen, ist ein Symbol der Großzügigkeit.«
»Sei mir nicht böse«, protestierte Nina. »Ich mag ihn, deinen …«
Sie hatte keine Zeit, ihren Satz zu Ende zu bringen, Tam war schon fort. Ihre beiden langen Zöpfe tanzten auf ihrem Rücken.
›Dieses Mädchen ist eifersüchtig‹, dachte Nina, während die Rikscha weiterfuhr. ›Ich weiß nicht, ob auf mich oder auf Wenji, oder auf beide, aber sie ist eifersüchtig.‹
Sie zuckte mit den Schultern und beschloss, Tams Wut zu vergessen. Es wäre besser, darüber nachzudenken, was sie der Familie Teng über Antiquitäten erzählen konnte. Ach was! Sie würde improvisieren!
Als sie wieder in der Villa Henriette war, übergab sie Chinh die Einkäufe und rannte durch den Flur des Hauses in Richtung Badezimmer. Der Schweiß ließ den Stoff des Kleides an ihrer Haut kleben, und es war ihr, als rieche sie nach Krabben. Sie musste sich vor dem Abendessen gründlich waschen.
Plötzlich unterdrückte sie einen Schrei.
Im Wohnzimmer stand ein Mann. Er beugte sich über das Buffet und steckte die Nase in eine der Schubladen. Er war sehr dick, prustete und käute wieder wie eine Kuh. Als er Nina im Türrahmen stehen sah, fuhr er zusammen. Auf seiner glänzenden Nase saß ein Monokel, seinen Mund zierte ein auffallend lächerlicher gewachster Schnurrbart.
»Wer sind Sie?«, muhte er mit einer Stimme, die im Einklang mit seiner Rinder-Physiognomie stand.
Nina konnte vor Empörung nicht mehr an sich halten.
»Das ist eine seltsame Frage«, donnerte sie und verschränkte ihre Arme. »Bei wem glauben Sie denn zu sein?«
Jetzt wusste der Unbekannte nicht, was er antworten sollte. Stattdessen betrachtete er lange die junge, elegante Frau und blickte ab und zu auf einen Punkt hinter Nina.
Sie drehte sich um, um zu sehen, was seine Aufmerksamkeit auf sich zog, und entdeckte ein Foto, das durch den Flur hinweg im Zimmer ihres Vaters sichtbar an der Wand hing: das Foto ihrer Mutter im Sommerkleid, mit lockeren Haareb und hellen Augen.
Nina begriff, dass die Ähnlichkeit frappierend war. ›Umso besser‹, dachte sie.
»Sie …«, begann der schnauzbärtige Wiederkäuer.
»Ich bin Antoinette d’Armand«, fiel ihm Nina ins Wort.
Der Unbekannte wirkte erleichtert. Offenbar hatte er gefürchtet, einem Geist gegenüberzustehen. Er nahm eine würdige Haltung an und neigte den Kopf.
»Professor Morton.«
»Ach? Sie sind das!«
Nina spürte, dass sie ihren Vorteil ausnutzen musste. Der Professor wirkte befangen, da er auf frischer Tat ertappt worden war. Er durfte nicht zur Besinnung kommen, bevor er nicht eingestanden hatte, dass Antoinette d’Armand eine junge Frau von einundzwanzig Jahren war – also volljährig.
»Schön, Sie zu treffen, Monsieur Morton. Ich habe Ihre Nachricht an Bord des Passagierdampfers wohl erhalten. Aber es war mir nicht möglich, nach Frankreich zurückzufahren. Was auch immer meinem Vater widerfahren ist, es war unerlässlich, hierherzukommen und seine Angelegenheiten zu regeln.«
Ehe er antwortete,
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