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Das Geheimnis der Jadekette - Fandorin ermittelt Kriminalerzaehlungen

Das Geheimnis der Jadekette - Fandorin ermittelt Kriminalerzaehlungen

Titel: Das Geheimnis der Jadekette - Fandorin ermittelt Kriminalerzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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Boden, und der Zar japste kaum noch. Na schön. Über das Feld wurde ein Silberspiegel gebreitet, so groß wie ein Meer. Darauf liefen ungezählte Bauern und Handwerker, tausend mal tausend Leute. Die Junker und Popen und Kaufleute wurden zum Fladen gepresst, die Minister zur Plinse, und aus dem Zaren wurde eine große Pfütze. Über die Bauern aber senkte sich vom Himmel ein Gitter aus Goldfäden, ganz leicht. Darauf spazierten nach Herzenslust umher Mönche, Waisenkinder und Fromme im Gebet. Über denen war gar nichts mehr, nur noch Sonne, Mond und Sterne …«
    »Da haben wir das ganze sozialistische Programm in reinster Form.«Kryshow, der einen Blick Fandorins aufgefangen hatte, lachte. »Geben Sie uns Zeit. Mütterchen Russland wird von unten her durchgerüttelt und von den Füßen auf den Kopf gestellt.«
    Aber Fandorin guckte nicht Kryshow an, sondern Masa.
    Der Japaner hielt sich abseits, lauschte nicht dem Märchen, sondern betrachtete mit wichtiger Miene einen Gummibaum, der stolz unter die Heiligenbilder gestellt war. Fandorin bemerkte mit unwillkürlicher Gereiztheit, dass die rotwangige Manefa näher an den Japaner herangerückt war und ihn mit großen Augen ansah, sogar einen Zipfel ihres Tuchs vor den Mund hielt.
    Der Erfolg Masas beim schwachen Geschlecht hatte wahrlich etwas Mystisches.
    »Onkelchen, wer sind Sie?«, fragte Manefa schüchtern. »Warum kneifen Sie dauernd die Augen so schmal? Und Sie haben sich beim Eintreten nicht bekreuzigt.«
    Der Asiat blickte nicht zu ihr hin, runzelte nur nachdenklich die Augenbrauen.
    »Vielleicht sind Sie ein Dämon, der geschickt wurde, uns in Versuchung zu führen?« Das Mädchen wurde immer zaghafter. »Als Vorzeichen des Zeitenendes?«
    Da warf er einen Seitenblick auf sie und sagte gleichsam widerwillig: »Als Versuchung. Ja.«
    Manefa schlug ein winziges Kreuz.
    »Aber ich lass mich nicht verführen. Lieber geh ich nach Haus und bete vor der heiligen Ikone.«
    Na, bist du zufrieden?, dachte Fandorin schadenfroh.
    Aber er hatte sich zu früh gefreut.
    »Von der Versuchung weglaufen ist Sünde. Unehrlich«, sagte Masa streng. »Aushalten muss du.«
    »Aushalten, wie denn? Und wenn das Fleisch schwach ist? Einem Dämon ist ja große Kraft gegeben.«
    Der Japaner musterte sie aufmerksam von Kopf bis Fuß.
    »Fleiss, das zählt nicht. Hauptsache, die Seele bleibt fest, geht nich vom alten Glauben ab.« Er bekreuzigte sich mit zwei Fingern. »Hast du starke Seele?«
    »Seele ja«, antwortete das arme Opfer leise.
    Manefa widersetzte sich nicht, als Masa sie beim Arm nahm und sie, während alle dem Märchen lauschten, sacht hinausführte.
    Fandorin hätte natürlich sich einmischen und dem Kater die Butter versalzen können, aber er tat es nicht. Erstens hätte das nach kleinlicher Rachsucht ausgesehen. Und zweitens hatte er für Masa jetzt keine Aufgabe. Man konnte nur auf Odinzows Rückkehr warten.
    Im Stillen den allgemeinen moralischen Verfall beklagend, der, nach Manefas Betragen zu urteilen, nun sogar schon die standfestesten Volksmassen ergriff, ging Fandorin hinaus ins Freie, um frische Luft zu schnappen, denn im Hause war die Luft zum Schneiden.
    Bei der Vortreppe sah er eine Kinderschar, die sich um die junge Blindenführerin scharte. Die erzählte wieder etwas, ein schreckliches Märchen wohl: Grabesstimme, weit aufgerissene Augen, die Finger gespreizt wie Zangen. Die Kinder ächzten nur.
    »Er geht – und hampelt – dreht den Kopf – und trampelt », verstand Fandorin und schmunzelte. Eine würdige Schülerin hatte Mutter Kirilla – schon mit eigener Zuhörerschaft.
    Ein sommersprossiges kleines Mädchen mit roten Fäustlingen, die sie an einer Schnur um den Hals trug, damit sie nicht verlorengingen, entdeckte den Erwachsenen und zog die Nase hoch. Sie mochte acht oder neun sein, im offenen Mund standen die Zähne auseinander, waren noch nicht fertig entwickelt.
    »Achtung!« rief sie laut.
    Die Kinder wurden still und drehten sich nach dem Fremden um.
    Sie hatten alle den gleichen Gesichtsausdruck: erschrocken und zugleich begeistert. Polkaschka nutzte die Pause, um einen Bonbon in den Mund zu stecken, wahrscheinlich das Honorar für das Märchen.
    »Na, wasch glotscht du?«, sagte die Sommersprossige ärgerlich. »Geh deiner Wege.«
    »Mach ich. Aber wisch dir den Rotz ab.« Fandorin lachte und putzte der Kleinen die Nase mit ihrem roten Handschuh.
    Er ging zur Dorfmitte, blickte zum Himmel und erstarrte. So helle Sterne in so großer Zahl

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