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Das Geheimnis der Jadekette - Fandorin ermittelt Kriminalerzaehlungen

Das Geheimnis der Jadekette - Fandorin ermittelt Kriminalerzaehlungen

Titel: Das Geheimnis der Jadekette - Fandorin ermittelt Kriminalerzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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aber keinem andern. So was Geiziges!«
    Das Mädchen wurde angezischt. Jewpatjew hatte seine Ansprache beendet, und der Starosta stand auf. Seine Rede war kurz. Im Raum wurde es sofort still.
    Sicherlich brauchen die quirligen Leute solch einen Anführer – finster und zurückhaltend, dachte Fandorin. Man weiß ja seit alters: Schwätzer werden am besten von einem Schweiger geführt und Schweiger von einem Schwätzer.
    Der Alte sagte: »Aus dem Mund des Narren spricht Gott. In Lawrenti ist nicht Hass auf die Menschen, sondern auf den Satan. Über die Zählhelfer werden wir nachdenken.«
    Und setzte sich wieder.
    Er hatte nur drei Sätze gesagt, doch die hatten den Effekt von Jewpatjews Rede zunichtegemacht.
    Aloisi Kochanowski stürzte vor, um zu reden, doch ihm hörte kaum jemand zu. Zwar gingen nur wenige weg, aber es bildeten sich Grüppchen. Hier wurde lebhaft gestritten, dort laut gelacht. Die Leute waren hauptsächlich gekommen, um Kirilla zu hören.
    »Da ist es, das wahre Russland«, sagte Jewpatjew bitter zu Fandorin und deutete auf die Märchenerzählerin. »Scharfer Verstand, uneigennützig, mit einer Binde um die Augen – sie braucht das Tageslicht nicht.«
    »Was flechten die Leute?« fragte Fandorin.
    »Das sind Lestowkas. Jeder Altgläubige hat eine. Ich auch.« Er holte unter dem englischen Hemd ein mit Perlen besticktes Bandhervor. »Die vier dreieckigen Plättchen, das ist das Evangelium. Die kleinen Knoten heißen ›Böhnchen‹. Mit denen werden die Gebete und Verneigungen gezählt. ›Lestowka‹ oder ›Lestwiza‹ – das bedeutet ›Treppe‹. Bei uns glaubt man, dass diese Treppe in den Himmel führt. Kommen Sie, zuhören.« In der Menge, die Kirilla umdrängte, wurde gerufen, laut gelacht. »Was gibt es da? Mal sehen.«
    Es zeigte sich, dass man bei Kirilla Märchen bestellte.
    »Erzähl von der Zarin Katja!«
    »Nein, Mütterchen, wie der Deutsche ins Dampfbad ging!«
    »Vom fastenden Popen!«
    Der Starosta wartete eine Pause ab und sagte gewichtig: »Erzähl ein Märchen, wonach man ein Bild malen kann.«
    Andere pflichteten ihm bei, und einige der Männer legten Papier bereit, um zu zeichnen.
    »Ihr kennt ja schon alles«, sagte Kirilla nachdenklich. Ihr mageres weißes Gesicht war leidenschaftslos, ohne den Anflug eines Lächelns, obwohl ihr Publikum sichtlich etwas Lustiges erwartete. »Vielleicht vom Zaren Petruschka? Habt ihr von der Pyramide gehört?«
    Dieses Wort kannten die Dörfler nicht.
    »Wovon, Mütterchen?«
    »Eine Pyramide, das ist eine Art Osterkuchen aus Steinen, der im Altertum über den Gräbern der Zaren gebaut wurde, um ihre Seele zu retten«, erklärte Kirilla und zeigte mit den Händen: oben spitz, nach unten immer breiter. »Riesengroß, wie ein Berg. Hab ich in einem Buch gesehen. Also, soll ich erzählen?«
    »Ja, erzähl!«
    In demselben ernsten Ton hob Kirilla im Singsang an:
    »Zar Petruschka, Katzenaugen, Schweinerüssel, war an einer bösen Kränke krepiert, und nun schleppten ihn die Teufel in die Hölle. Er brüllte, jammerte – glaubte, sie würden ihn mit dem Rüssel in Tabaksglut tunken, ihm den abrasierten Bart mit Nadeln insGesicht nähen. Der garstige Kerl wusste, wie viel er gesündigt hatte.«
    Die Zuhörer glucksten, doch die Märchenerzählerin ließ sich nicht beirren.
    »Aber nein. Es empfing ihn der Fürst der Finsternis persönlich, erwies ihm Ehren. Soundso, tretet näher, Hoheit, wir warten schon sehnsüchtig auf Euer Gnaden.«
    Wieder kurze Lacher voller Vorfreude.
    »Petruschka sagte zaghaft: ›Hoheit war ich dort, hier bin ich gar nichts. Ich brauch bloß ein Eckchen, ein ruhiges Fleckchen.‹ Darauf der Satan: ›Nein, so nicht, bei uns geht alles redlich zu. Wer bei euch Zar war, ist es auch bei uns.‹ Nun wurde Petruschka ins freie Feld geführt. Und bekam eine große hölzerne Tischplatte auf die Schultern – halt sie fest. Da war nichts zu machen, er musste sie tragen. Obendrauf stiegen Petruschkas Fürsten und Minister, zwölf Mann. Der Zar hatte sich auch zur Fastenzeit den Bauch mit Fleisch vollgeschlagen, und seine Schultern waren breit wie ein Kleiderschrank, aber nun ächzte er und ging in die Knie. Die Minister auf ihm sprangen vor Freude. ›Hast du mit uns deinen Spaß gehabt, so schleppe uns jetzt.‹ Aber ihre Freude währte nicht lange. Die Teufel deckten einen ehernen Schild über sie, so groß wie ein Feld, darauf setzten sie Junker und Popen und Kaufleute. Na, die Fürsten und Minister krümmten sich bis zum

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