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Das Geheimnis der Jadekette - Fandorin ermittelt Kriminalerzaehlungen

Das Geheimnis der Jadekette - Fandorin ermittelt Kriminalerzaehlungen

Titel: Das Geheimnis der Jadekette - Fandorin ermittelt Kriminalerzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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vor dem Wolfsgebrüll, zog den Schwanz ein und entfloh. Die Hündin aber ließ sich nicht ängstigen, sie trieb die Lämmer zusammen und scheuchte sie ins Kloster. Hinter mir aber erhob sich großes Schreien und Klagen – die Riesenwölfe rissen und zerfleischten die restliche Herde.
    Der Abt kam heraus zu mir und fragte: ›Sage an, Mönch, wo ist meine große Herde?‹
    Da warf ich mich ihm zu Füßen und sagte weinend: ›Herr, ich bin sündig, schwach, unwürdig. Die weißen Schafe, so ich retten konnte, habe ich gebracht, sehr wenige, auch etliche weiße Lämmer, doch die übrigen sind verloren.‹
    Der Abt aber sprach: ›Weiße Lämmlein, fein und klein, nimmt Gott zu sich – als Engelein.‹
    Und er verzieh mir. Und gab mir seinen Segen.«
    »Das war’s. Sch-Schluss. Na, Nikifor Andronowitsch, was sagen Sie?«
    Jewpatjew verkündete mit Überzeugung: »In dieser Aufzeichnung ist nichts Geheimnisvolles. Es ist ein Auszug aus den ›Visionen des Mönchs Amwrossi‹, das ist ein recht bekanntes Werk aus der Epoche Peters. Amwrossi war ein Schüler des Protopopen Awwakum, über sein Leben gibt es nur sehr karge Daten. Da die ›Visionen‹ in einfacher Umgangssprache verfasst sind, ist anzunehmen, dass er ein Mann ohne kirchliche Bildung war, kein Geistlicher. Von dem Werk gibt es viele Abschriften. Wie ich schon sagte, enthält es abweichende Lesarten und unverständliche Stellen. Darf ich mal schauen?«
    Jewpatjew nahm das Schriftstück und las es aufmerksam.
    »Das ist erst vor kurzem abgeschrieben. Da sind Flüchtigkeiten, die heutigen Berufsschreibern nicht unterlaufen. Zum Beispiel der Name des Wolf-Antichristen ›Sud‹ ist ohne das altrussische Härtezeichen geschrieben.« Er gab das Blatt zurück. »Aber ansonstenmuss ich Sie enttäuschen. Nichts Esoterisches. Den Traum des Mönchs Amwrossi von den Schafen und den Riesenwölfen kenne ich schon aus meiner Kindheit. Er ist eine poetische Allegorie von der Pflicht des Hirten, seine Herde vor dem Bösen zu behüten.«
    »Aber was bedeutet die Metapher von dem entflohenen Hund und der m-mutigen Hündin?«
    »Nun, die Tradition des Altglaubens stützt sich bekanntlich auf die Frauen. In der Zeit von Amwrossi war das anders, aber dafür ist er ja Prophet, dass er in die Zukunft schaut … Na, und dass die Selbstmörder diesen Text in die Mine mitnehmen, ist kein Wunder, denn sie glauben ja, vor den Wölfen in das leuchtende Kloster geflohen zu sein.«
    »Also nützt uns dieses Papier gar nichts? Verdammt!« Der Wachtmeister spuckte aus und ließ sich müde auf die Bank fallen.
    Schweigen.
    Fandorin trat ans Fenster, vor dem es im Gleichklang mit seiner Stimmung rasch finster wurde. Er holte die alte grüne Kette aus der Tasche und klackerte rhythmisch mit den Steinchen.
    Masa beobachtete seinen Herrn mit Sorge und Hoffnung. Jewpatjew wollte etwas sagen, doch der Japaner zischte ihn an und legte den Finger an die Lippen.
    Achselzuckend griff Jewpatjew eine schöne silberne Reiseflasche vom Tisch und nahm einen Schluck.
    »Möchten Sie Rum?«, bot er an. »Sie sind gewiss müde von der Reise.«
    Fandorins Kammerdiener ließ wieder einen ärgerlichen Laut hören, aber zu spät – der Deduktionsprozess war unterbrochen.
    »Wie b-bitte?«
    Fandorin drehte sich um und warf einen zerstreuten Blick auf den Industriellen.
    »Ist Alkohol den Altgläubigen nicht verboten?«
    »Sein Genuss ist eine Sünde, aber eine lässliche. Anders als dasRauchen von Satanskraut.« Jewpatjew lächelte, wohl um den verdrossenen Gesprächspartner aufzumuntern. »Nehmen Sie einen Schluck? Ein echter Altgläubiger würde nicht mit einem Ketzer wie Ihnen aus einer Flasche trinken, aber ich riskier’s«, fuhr er im gleichen Ton fort.
    Auf der Flasche blinkte ein vergoldetes Monogramm:

    »N. A. ist klar, es steht für Nikifor Andronowitsch, aber warum M?« fragte Fandorin, noch immer zerstreut, und nahm den Rum. »Ihr Nachname fängt doch mit J an?«
    »Das ist kein Initial«, erklärte Jewpatjew. »Das ist eine Zahl. Sehen Sie das Häkchen über dem M? Es heißt ›Titlo‹ und ist in der kirchenslawischen Schrift das Abkürzungszeichen. Der Buchstabe M, der für Myslete steht, mit dem Häkchen darüber bedeutet ›40‹. Die Flasche haben mir meine Vorarbeiter zum Vierzigsten geschenkt.«
    »Myslete?«, wiederholte Fandorin. Und noch einmal: »Myslete 7 ? Ja, genau! Nachdenken muss man, nicht …«
    Er ergriff das Blatt und bohrte den Blick hinein. »Aber ja doch! Das sind

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