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Das Geheimnis der Jadekette - Fandorin ermittelt Kriminalerzaehlungen

Das Geheimnis der Jadekette - Fandorin ermittelt Kriminalerzaehlungen

Titel: Das Geheimnis der Jadekette - Fandorin ermittelt Kriminalerzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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mittleren Bahnhofsgaststätte ähnelte, stand in einer schmutzigen Straße mit schadhaftem Kopfsteinpflaster. Die Luft war getränkt von schwerem Ölgeruch und Lokomotivausdünstungen. Dafür herrschte im Innern des Kontors Sauberkeit und Ordnung, allerdings fehlte jeder Schmuck: keine Bilder an den Wänden, keine Geranien auf den Fensterbänken.
    Das Erdgeschoß war ein einziger Saal mit dreißig Tischen. Über jedem Tisch ragte ein Schild mit der Bezeichnung dieser oder jener Streckenbahnmeisterei. Die Angestellten brüteten über Papieren, schrieben etwas in Kontorbücher. Für Fandorin interessierten sie sich nicht. Praktikanten in Studentenuniform waren hier wohl keine Seltenheit.
    In einer Nische auf dem Treppenabsatz zwischen Erdgeschoss und Mezzanin war eine Telegraphenstelle mit mehreren Apparaten untergebracht. Sie alle zirpten wie aufgezogen.
    Oben befand sich das Kabinett des Direktors, wohin Fandorin seine Schritte lenkte. Da er schon am Vorabend im Allerheiligsten gewesen war, kannte er den Weg: noch zwei Treppenläufe und dann durch die lederbeschlagene Tür.
    Aber direkt vor der Tür sah sich der Kollegienassessor gezwungen stehenzubleiben. Durch den Türspalt drang Schluchzen und Seufzen – dort weinte jemand.
    »Was gibt’s da zu heulen?«, ertönte eine schroffe Männerstimme. »Sie haben selbst gesagt, dass Sie ihn nicht lieben, und nun so was. Haben Sie etwa gelogen?«
    Lautes Schneuzen.
    Darauf dieselbe Stimme mit derber Fürsorglichkeit: »Nehmen Sie mein Taschentuch, Ihrs ist ja ganz nass … Ach, Mawra Lukinischna, Sie haben ihn überhaupt nicht geliebt. Drei Tage nach dem Begräbnis wollen Sie schon wieder malen. Das ist kein Vorwurf,ganz im Gegenteil. Ich hasse Verstellung. Sie haben ihn nicht geliebt, also brauchen Sie auch nicht zu flennen. Wenn’s jemand anders wär, aber Stern. Pfui!«
    Fandorin, der schon taktvoll zurückgehen wollte, blieb stehen und hörte gespannt zu.
    »Hören Sie auf, das ist ja widerlich! Selber ›pfui‹ … Außerdem weine ich nicht um Stern…«, antwortete eine näselnde Mädchenstimme. »Nicht nur um ihn. Wegen Paris tut’s mir leid. Uuuu…«
    Wieder Schluchzen.
    »Dieses Paris hat’s Ihnen aber angetan! Wenn ich Geld hätte …«
    »Merci«, unterbrach ihn die Weinende, »aber Ihre Frau werde ich bestimmt nicht. Da käme ich ja vom Regen in die Traufe.«
    Sie lachte und offenbarte damit die Fähigkeit, blitzschnell die Stimmung zu wechseln.
    Fandorin entschied, dass er nun hineingehen konnte. Er trat auf der letzten Stufe laut auf und öffnete die Tür.
    Zwei Menschen blickten ihm entgegen: ein Fräulein mit einem breitkrempigen Strohhut auf dem Kopf und einem hölzernen Malkasten über der Schulter und ein hochgewachsener Mann mit dichter Mähne und einem nervös wirkenden, kantigen Gesicht.
    Das Mädchen war zauberhaft. Genauer: hübsch, ja, aber ohne Lieblichkeit – ein scharfer, gerader Blick, Eigensinn und Entschlossenheit in der Lippenzeichnung.
    Ein schönes, lebhaftes Mädchen mit Charakter, urteilte Fandorin.
    »Entschuldigung, wie komme ich ins Büro?«, fragte er mit der einem Praktikanten geziemenden Schüchternheit.
    »Wollen Sie wirklich ins Büro?« Der Mann musterte ihn von Kopf bis Fuß. »Vielleicht ins Kontor? Dann haben Sie sich umsonst hier herauf bemüht – das ist unten. Wenn Sie wegen eines Praktikums vorsprechen wollen, wenden Sie sich an Kronberg. Das ist so eine Kanzleiratte mit Zwicker, sitzt am Fenster, unten gleich links.«»Nein, ich muss zu Herrn von Mack. Ich wurde als Sekretär eingestellt, vorübergehend … Pomeranzew, Pawel Matwejewitsch.«
    So hieß tatsächlich ein Kommilitone von Alexander von Mack (für den Fall, daß die Mossolow-Leute Nachforschungen anstellten). Bei dem Namen stotterte der Kollegienassessor kein einziges Mal, obwohl er so schwere Laute wie »p« und »m« enthielt. Erstaunlich: Sowie sich Fandorin im Zuge einer Ermittlung in eine andere Person verwandelte, war das verdammte Stottern spurlos verschwunden. Im Übrigen hatte er sich längst an dieses Phänomen gewöhnt und wunderte sich nicht.
    »Landrinow, Maschinist an der ›Remington‹«, stellte sich der Zottelkopf vor, ohne Fandorin die Hand zu geben. »Das ist keine Lok, sondern eine Art Tischdruckerei.«
    Fandorin wollte sagen, er wisse Bescheid (zu Hause besaß er selbst eine »Remington«-Schreibmaschine, ein Meisterwerk des technischen Fortschritts), aber da mischte sich das Fräulein ins Gespräch: »Was für ein interessantes

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