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Das Geheimnis der Jadekette - Fandorin ermittelt Kriminalerzaehlungen

Das Geheimnis der Jadekette - Fandorin ermittelt Kriminalerzaehlungen

Titel: Das Geheimnis der Jadekette - Fandorin ermittelt Kriminalerzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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konnte.
    Nachdem Fandorin die Nebenfiguren bestimmt hatte, ging er zu psychologischen Beobachtungen über.
    Der Oberschriftführer Serdjuk. Der leibhaftige Gogolsche Akaki Akakijewitsch 5 . Obwohl er Bürovorsteher war, zitterte keiner vor ihm. Schüchtern. Kleinlich. Kümmerlich. Dieses fade,duckmäuserische Männlein konnte man sich schwer in der Rolle des Giftmörders vorstellen, aber stille Wasser sind bekanntlich tief.
    Der Remington-Schreiber Landrinow. Ein Mensch mit ungesunden Nerven – reizbar, streitsüchtig. Aber ein erstklassiger Arbeiter, der mit seinem ungefügen Apparat vorzüglich zurechtkam. Im Unterschied zu Serdjuk und Saussenzew sprach er, ohne die Stimme zu senken.
    Der Kammerdiener Fedot Fedotowitsch. Er ließ nur selten ein Wort in die Unterhaltung einfließen, und auch das nur pro forma. In der Zeitung blätterte er ebenfalls nur zum Schein – er war Analphabet. Wenn er sich nicht schlafend stellte, sondern wirklich schlief, bewegten sich seine Schnurrbartenden rhythmisch. Beide Schriftführer fürchteten ihn.
    Taissi Saussenzew. Er war stets beflissen: hob Serdjuk einen heruntergefallenen Radiergummi auf, blies Landrinow ein Stäubchen von der Schulter: »Liebster, Sie haben sich schmutzig gemacht.« Landrinow zischte: »Psst!«, der junge Mann kicherte und flatterte graziös davon. Verwunderlich: Er versteckte zwischen den Blättern seines Abreißkalenders einen kleinen Spiegel und betrachtete sich darin hin und wieder wohlgefällig.
    Die Köchin. Wenn sie aus Langeweile auf die Idee kam, den Büroleuten Tee zu servieren, krachte sie die Gläser auf den Tisch, und aus ihrer Miene sprach gekränkte Würde. Sie brabbelte laut vor sich hin, dass sie früher nur »den Chef« bedient habe und sich jetzt »erniedrigen« müsse. Wohl eine außergewöhnlich dumme Frau. Aber vielleicht im Gegenteil eine besonders kluge?
    Fandorin, an völlig andere Daseinsformen gewöhnt, fand das Leben im Büro merkwürdig und aufschlussreich. Anscheinend war es überhaupt kein Leben, sondern ein verschlafener Sumpf. Aber unter der ruhigen Oberfläche brodelten nicht weniger Emotionen als auf einem vornehmen Ball, in den Wandelgängen der Macht oder auf einem Diplomatenkongress. Die Leiden der erniedrigten Marjakonnten es mit den Qualen der Kaiserin Josephine aufnehmen, als Napoleon sie verließ. Die Zeitung des Kammerdieners erinnerte an Kutusows berühmtes blindes Auge, vor das er während der Schlacht von Borodino das Fernglas hielt. Die Philippika, die Serdjuk gegen Personen ritt, »die nicht sparsam mit Büroklammern umgehen können«, war von echten Gefühlen diktiert. Der unergründliche Katzenblick des lieblichen Taissi barg ein Rätsel. Landrinow, der alles und jeden hasste, hätte dem antiken Menschenhasser Caligula hundert Punkte vorgeben können. Und einer von ihnen, das sei nicht vergessen, nahm es mit Cesare Borgia auf.
    Fandorin geriet ins Philosophieren.
    Ach, wie irrt die mitleidige russische Literatur, Nikolai Gogol wie auch Fjodor Dostojewski, was die »kleinen Leute« angeht. Die gibt es nicht und kann es nicht geben. Man muss kein Mitleid mit Akaki Akakijewitsch und Makar Dewuschkin 6 haben, muss ihretwegen keine Tränen vergießen, sondern ihnen Achtung und Aufmerksamkeit entgegenbringen. Das verdient jeder Mensch. Je stiller und unauffälliger er ist, desto tiefer ist in ihm ein Geheimnis verborgen.
    Warum zum Beispiel interessiert sich niemand im Büro für den Neuen? Alle außer dem Remington-Schreiber sind höflich zu dem »Sekretär« und beantworten seine Fragen, aber sie selber fragen nichts. Sind sie schüchtern, genieren sie sich? Oder ist es etwas anderes?
    Und wie erklärt sich das absolute Schweigen hinsichtlich des entsetzlichen Dramas, das sich hier vergangenen Donnerstag abspielte? Fandorin versuchte, erst mit dem einem und dann mit dem anderen Schriftführer darüber zu sprechen, aber jeder hatte unverzüglich eine dringende Arbeit außerhalb des Zimmers zu erledigen; der Kammerdiener fing an zu schnarchen, und Marja verzog sich in ihre Küche. Allein Landrinow ergriff nicht die Flucht, sondernknurrte: »Lassen Sie mich in Ruhe! Stören Sie mich nicht bei der Arbeit!«
     
    Aber Punkt ein Uhr schien die strahlende Sonne den Sumpfnebel zu zerstreuen – Mawra brachte dem Vater das Mittagessen. Sogleich belebten sich alle. Jeder holte sein mitgebrachtes Essen hervor, und Marja schenkte Tee ein, ohne zu murren.
    Alle gruppierten sich wie von selbst um den Tisch des

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